«Tokyo Vice»-Kritik - Michael Mann kanns noch

Michael Mann, das Tokyo der 90er Jahre, sich bekriegende Yakuza und ein überambitionierter Reporter kreieren in «Tokyo Vice» eine frische Prise im Genre des Kriminaldramas.

«Tokyo Vice», lose basierend auf dem Leben des amerikanischen Journalisten Jake Edelstein, der als erster amerikanischer Kriminalreporter in Japan arbeitete, startet faszinierend. Schnell wird deutlich, wie bedauerlich es ist, dass Michael Mann lediglich die Pilotepisode der Serie inszeniert hat, denn die restlichen Folgen messen sich an diesem Aushängeschild, können aber nicht daran anschließen. Mit musikalisch unterlegten, intelligenten Schnitten startet die dialogarme Pilotfolge und stellt den jungen, unerfahren Journalisten Jake Edelstein mit gezielten Nahaufnahmen vor. Michael Mann liefert ein für ihn so typisches, perfekt inszeniertes Neo-Noir Bild ab, spielt mit allen hierfür prädestinierten Voraussetzungen und schafft es selbst dem Protagonisten mit dem kindlichen Gesicht (Ansel Elgort) eine gewisse Coolness zu verleihen.

Selten ist der Übergang von einem Direktor auf den anderen allerdings so deutlich, wie bei «Tokyo Vice». Visuell und ästhetisch wirkt die Serie ab Folge zwei grundverändert. Das Spiel mit der Musik und gezielten Schnitten rückt in den Hintergrund, das pacing zieht an und der Fokus wird auf die Geschichte der Protagonisten gelegt. Dieser inszenatorische Wechsel sorgt für ein stetiges, qualitatives auf und ab, Handlung und Protagonisten betreffend. «Tokyo Vice‘s» größtes Problem, ist die hohe Screentime Hauptdarsteller Ansel Elgorts als Journalist Jake Edelstein, der trotz eines gewissen verschmitzten Charmes, häufig antiklimatisch wirkt und es teilweise schwer macht, die Darstellung durchgehend ernst zu nehmen. Dasselbe kann allerdings auch für die andere, größere westliche Nebenrolle der Samantha Porter (Rachel Keller) gesagt werden, die als amerikanische Hostess in einem Club Tokyo’s versucht, auf eigenen Beinen zu stehen. Ihrer Nebenhandlung mangelt es an Prägnanz und damit letztlich auch an Relevanz.

Ob dies nun mit der Tatsache zusammenhängt, dass dich japanischen Schauspieler, allen voran Ken Watanabe als grummeliger, erfahrener Polizist Hiroto Katagiri und Jung-Yakuza Sato (Show Kasamatsu) ihren westlichen Kollegen schlicht die Show stehlen oder die Handlung um zwei rivalisierende Yakuza Gangs und die Verstrickung der Kriminalpolizei in die Machenschaften dieser, schlicht interessanter sind, sei einmal dahingestellt. Trotz der Nahbarkeit der beiden westlichen Darsteller für ein westliches Publikum, muss sich schlicht die Frage gestellt, warum diesen beiden Charakteren, inklusive teilweise plumpen Dialogen und schwachen, ins leere verlaufenden Nebenhandlungssträngen so viel Screentime zugutekommt.

Löst sich Tokyo Vice von diesen Handlungssträngen und taucht tief ins Tokyo der späten 90er Jahre ein, in die Machenschaften der Yakuza und der Polizei, schafft es die Serie faszinierende und authentisch wirkende Geschichten zu erzählen, die trotz des langsamen pacings und der fein dosierten Action, in ihren Bann ziehen. Sie weht einen frischen Wind in das heute allgegenwärtige, stets nach Schema F ablaufende Kriminaldrama, das sowohl in Deutschland als auch den Staaten am Fließband produziert wird.

Es ist immer problematisch, wenn die Pilotepisode einer Serie, gleichzeitig auch die Beste ist, an der sich der Rest messen lassen muss. Es wäre zudem wünschenswert gewesen noch etwas tiefer in die japanische Kultur und Unterwelt einzutauchen und stattdessen auf einige Nebenhandlungsstränge zu verzichten. Trotz stilistischer und erzählerischer Diskrepanzen schafft es «Tokyo Vice» über seine acht Folgen hinweg allerdings, einen frischen Wind in ein überfüllt wirkendes Genre zu bringen.

Die HBO Max Serie «Tokyo Vice» ist in Deutschland seit dem 15.05.2022 bei dem Amazon Channel Starzplay zu sehen.
22.05.2022 10:30 Uhr  •  Marc Schneider Kurz-URL: qmde.de/134495