Gibt es ein falsches Bild der Meinung durch die Ausgewogenheit in Polittalkshows? Obwohl die Deutschen oft eine klare Meinung haben, kommen Randgruppen oft zu Wort.
In Zeiten von Klimawandel und Corona wird besonders deutlich, welch seltsame Meinungen zum Teil in unserem engsten Umfeld kursieren. Vom Leugnen des menschengemachten Klimawandels in zum Teil hohen politischen Ämtern bis hin zu Youtubern, die auf Grundlage eines Anatomiebuchs für Künstler zu selbsternannten Corona-Experten werden, stellen wir fest, dass Meinungen aus zum Teil fragwürdigen Quellen ungeprüft übernommen werden. Häufig gehen die öffentliche Meinung und der wissenschaftliche Konsens zu einem Thema deutlich auseinander. Grund dafür: die Darstellung in den Medien, vom öffentlich-rechtlichen Radio über die Boulevardpresse bis hin zu von Verschwörungstheoretikern betriebenen Fernsehsendern.
Das mediale Problem, das dem Ungleichgewicht der öffentlichen und wissenschaftlichen Meinung zugrunde liegt, heißt in der Fachsprache
False Balancing. Dieses Phänomen beschreibt den Vorgang, dass unter Berufung auf die journalistische Objektivität der Für- und Gegenseite zu einem Thema dieselben medialen Möglichkeiten eingeräumt werden, selbst wenn eine Seite deutlich mehr belastbare Belege für ihren Standpunkt vorweisen kann.
Zum Beispiel belegen 97-98 Prozent der Klimaforscher den anthropologischen Klimawandel, während 2-3 Prozent dem widersprechen. Bei Betrachtung der wissenschaftlichen Grundlage wird deutlich, dass die überragende Mehrheit der Forscher reproduzierbare, belastbare wissenschaftliche Ergebnisse vorweisen kann, während die Nachweise der kleineren Gruppe fehlerhaft oder falsifizierbar sind. In den Medien werden in der Regel beide Gruppen gleichberechtigt gegenübergestellt. Beispielsweise werden in einer Talkshow zu beiden Seiten gleich viele Gäste eingeladen, die während der Sendezeit annähernd die gleiche Redezeit zur Verfügung haben. Im Ergebnis entsteht für das Publikum der Eindruck einer ausgeglichenen Kontroverse, die faktisch nicht existiert.
Wissenschaftlicher Konsens entsteht aus der Verifizierbarkeit der Faktenlage, sodass davon auszugehen ist, dass – insbesondere bei einer deutlichen Gewichtung wie beim Klimawandel zum Beispiel – der Standpunkt mit dem größten Zulauf von wissenschaftlicher Seite die belastbarsten Ergebnisse liefert. Da das Publikum einer Talkshow in der Regel nicht mit dem wissenschaftlichen Kontext vertraut ist und beide Seiten als gleichwertig präsentiert werden, verschiebt sich die Gewichtung der Ansichten in der Öffentlichkeit. Das Publikum bildet sich eine Meinung, während sich die Wissenschaft auf Fakten bezieht. Im Ergebnis führt das False Balancing dazu, dass die Öffentlichkeit sich ohne tatsächliche Kenntnis der Faktenlage zu einem Thema positioniert.
Die Ironie beim False Balancing liegt darin, dass das Problem entsteht, weil man versucht, es zu vermeiden. Im Journalismus ist man dazu angehalten, zu jedem Thema auch die Gegenseite zu hören – was ein wichtiges und richtiges Prinzip objektiver Berichterstattung ist. Das Problem liegt darin, dass unter dem Vorwand der Objektivität Meinungen, die zum Teil wissenschaftlichen Grundaussagen widersprechen, wissenschaftlichen Fakten gegenübergestellt und auf diese Weise eine Gleichwertigkeit von Meinungen und Fakten suggeriert wird. Insbesondere in Medien, die vom Diskurs leben, ist das ein beliebtes Mittel, um ein Thema interessanter zu gestalten. Für eine lösungsorientierte Auseinandersetzung ist diese Herangehensweise allerdings nicht zielführend.
Beim False Balancing spielt außerdem eine Rolle, mit welcher Art von Medium es das Publikum zu tun hat. Marshall McLuhan prägte ein seinem Buch "Understanding Media: The Extensions of Man" den Satz: "The medium is the message" – zu deutsch: "Das Medium ist die Botschaft". Dieser Satz ist prägend für die frühen Medienwissenschaften und besitzt noch heute Gültigkeit. Je nach Art des Mediums wird ein bestimmtes Bild transportiert. So kann dieselbe Meldung in der Tageszeitung einen anderen Charakter haben als in einer Illustrierten. Die durch das False Balancing hervorgerufene Verschiebung wird in diesem Fall genutzt, um eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen.
Um dieses Problem zu umgehen, lässt zum Beispiel der britische Nachrichtensender BBC seine journalistische Belegschaft seit 2014 Seminare besuchen, in denen Möglichkeiten vermittelt werden, eine Minderheit in einem Beitrag ihrer Relevanz entsprechend zu Wort kommen zu lassen. Unter anderem kann ein passendes Gleichgewicht hergestellt werden, indem die Redezeit der Faktenlage angepasst oder entsprechend mehr Sprecher für die stärker durch Evidenz gestützte Seite gehört werden. Ein ausgeglichener Diskurs verschafft der Unterzahl eine Legitimation, die sie faktisch nicht besitzt, sodass eine Verschiebung in der Gewichtung der Ansichten einer objektiven Berichterstattung nicht widerspricht, sondern im Gegenteil notwendig ist, um die Grundlage des Themas korrekt darzustellen.
Wegen dieser möglichen Diskursverschiebung durch False Balancing haben insbesondere Verschwörungstheoretiker ein ausgeprägtes Interesse an öffentlichen Diskussionen. Eine Ablehnung der Diskussion macht das Gegenüber zu einem Gesprächsverweigerer, der einer anderen Meinung als der eigenen keine Plattform zugesteht. Geht man jedoch auf die Diskussion ein, bietet man im besten Fall widerlegbaren, im schlimmsten Fall menschenfeindlichen Ansichten eine Plattform, um den Anschein einer legitimen Meinung zu erwecken.
Derzeit ist das Thema False Balancing in Deutschland noch weitgehend unbeachtet. Lange Zeit gab es keinen Wikipedia-Eintrag und auch auf Youtube suchte man vergeblich unter dem deutschen Stichwort. Inzwischen gewinnt False Balancing zunehmend Beachtung. Eine wichtige Entwicklung, geht das Phänomen doch jeden Mediennutzer etwas an, von Social Media über Fernsehen bis zu Zeitung und Radio.