«Squid Game» – Erklärungsversuch eines Phänomens

Fans dürften aufgeatmet haben. Netflix hat sich lange Zeit gelassen mit der Bestätigung einer zweiten Staffel von «Squid Game». Nun geht die Fortsetzung der bislang erfolgreichsten Netflix-Serie in Produktion und man wird sehen, wohin die Reise führen wird. Wie aber fand die Serie überhaupt zu Netflix?

Südkorea ist in vielerlei Hinsicht ein „popkulturelles Phänomen“ der Gegenwart. K-Pop hat die Welt erobert und ist längst auch im sogenannten Westen keine Nische mehr, «Parasite» hat als erster nicht-englischsprachiger Film einen Oscar in der Kategorie Bester Film gewonnen. Südkoreas Popkultur boomt weit über seine Grenzen hinaus. Das Phänomen K-Pop sei an anderer Stelle bestaunt, an dieser Stelle geht es um die Liebe des Südkoreaner zum bewegten Bild. Eine Liebe, die die Erfolge der Film- und Serienmacher überhaupt erst möglich gemacht hat, denn das südkoreanische Kino ist ein Ereignis, das die Menschen im Süden der koreanischen Halbinsel nicht nur schätzen, wenn es internationale Preise abräumt. Bei nicht ganz 52 Millionen Einwohnern ist es keine Seltenheit, dass koreanische Spielfilme locker fünf, sechs, ja zehn Millionen Besucher in die heimischen Lichtspielhäuser locken. Von diesem Zuspruch profitiert die Filmindustrie. Die Einnahmen sind ordentlich. Das aber schlägt sich auch in den Budgets nieder. Man produziert auf A-Niveau. Und da das Publikum einfach gewisse Standards gewohnt ist, bedeutet das auch fürs Serienfernsehen, dass die Schauwerte stimmen müssen. Natürlich gibt es auch in Südkorea Gebrauchsware zum Füllen von Sendeplätzen. Die Anzahl an qualitativ hochwertiger Serienware ist dennoch enorm. Der Begriff Straßenfeger ist in Südkorea durchaus noch gebräuchlich, denn immer wieder tauchen im TV-Serien auf, die zu Massenphänomen heranreifen und Millionen an die Bildschirme fesselt. Serien, die sich auf breiter Front international, aber nur bedingt massentauglich vermarkten lassen. Dies liegt an der Struktur der Serien. In der Regel haben sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Und zwar wirklich ein Ende. Wenn eine Serie 16 Episoden umfasst, sind die einzelnen Episoden in der Regel eine Stunde lang. Solch eine Serie erzählt also in 16 Stunden eine Geschichte. Das ist schon eine Hausnummer. Zum „Wegbingen“ ist das zu viel. Dazu kommt das sehr ambitionierte Spiel koreanischer Schauspielerinnen und Schauspieler, die nach dem Motto agieren: Emotionen sind dazu da um gezeigt zu werden. Das unterscheidet sich schon arg vom Schauspiel amerikanischer oder europäischer Prägung.

Allerdings haben sich südkoreanische Serien durchaus in den letzten Jahren auch im Westen ein Publikum erspielt, trotz der sehr speziellen Erzählweise. Daran ist Netflix nicht unschuldig, denn Netflix hat viele Serien für den internationalen lizenziert. Auf den asiatischen Märkten spielen koreanische Serien auf Augenhöhe mit amerikanischen Produktionen. In Europa hat Netflix immerhin dafür gesorgt, dass die Serien zugänglich geworden sind. Die meisten, die man auf Netflix findet, sind entsprechend nicht synchronisiert, sondern nur untertitelt. Aber sie sind da. Womit Netflix einen ersten Schritt vollzogen hat, um südkoreanische Serien aus der Fan-Nische ins Hauptprogramm zu hieven.

Im zweiten Schritt hat Netflix dann das getan, was Netflix gerne macht, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren: Der Streaminggigant hat Talente eingekauft. So nennen das die Amerikaner. Sie haben keine Serienideen von sich aus entwickelt. Sie haben Filmemacher eingekauft. Um diese für Netflix zu ködern, legt ihnen der Streamingdienst für gewöhnlich ein Leckerchen aus, das da heißt: Carte Blanche. Die zu ködernden Kreativen bekommen quasi die Möglichkeit, ein Projekt in ihrer Heimat durchzuziehen, dass sie im „traditionellen“ TV nie unterbekommen hätten. Um eines dabei klar zu sagen: Diese Talente sind Vollprofis. Netflix muss da keine Angst haben, dass die als Projekt das Telefonbuch von Castrop-Rauxel in 26 Episoden verfilmen wollen. Netflix gibt ihnen vielmehr die Möglichkeit ein Projekt anzugehen, das sie nicht nur den Schecks wegen machen, sondern weil es auch wirklich machen wollen.

Auftritt Hwang Dong-hyuk. Jenseits seiner koreanischen Heimat war dieser Filmemacher bislang ein eher unbeschriebenes Blatt; in seiner Heimat aber hat er mit seinen (wenigen) Filmen Millionen Kinogänger in die Kinos gelockt. Seinen Durchbruch erlangte er 2011 mit einem für koreanische Verhältnisse ungewöhnlichem Film: «Dogani» (internationaler Verleihtitel: «Silenced») erzählt vom institutionalisierten Missbrauch von Schülerinnen und Schülern einer Gehörlosenschule und den Versuch durch Behörden-, Polizei- und Kirchenvertretern, diese Verbrechen zu vertuschen. 4,7 Mio Menschen sahen den Film in den Kinos, der ein großes Medienecho auslöste, da Hwang Dong-hyuk mit der auf einer wahren Begebenheit basierenden Geschichte gleich zwei brisante Themen aufgriff. Einmal natürlich den Missbrauch von Schutzbefohlenen, zum anderen aber auch die Macht von Seilschaften, die hinter den demokratischen Institutionen agieren. Hwang Dong-hyuk größter Kinoerfolg war 2014 eine Komödie mit dem Titel «The Granny» über eine alte Dame, die auf wunderliche Weise ihrem 20 Jahren alt Ich begegnet und 8,65 Millionen Zuschauer in die Kinos lockte. Auch wenn die Filme Hwang Dong-hyuk international bislang eher wenig Beachtung gefunden haben, eine Ausnahme ist das Schlachtgetümmel «The Fortress», das auch in Deutschland auf DVD erschienen ist, hat Hwang Dong-hyuk in seiner Heimat einen guten Namen.



Vor allem aber hatte er ein Projekt in der Schublade liegen, mit dem er seit 2008 regelmäßig die Klinken potenzieller Finanziers putzen ging, um ebenso regelmäßig für dieses Projekt eine Abfuhr zu erhalten. Die Serie war den Senderredakteuren zu düster, zu brutal, zu sozialkritisch, zu alles... Der Titel des Projektes: «Ojing-eo Geim». Oder auch «Squid Game».

Mit diesem Erfolg konnte niemand rechnen!


Das ist eine Konstellation, die bei Netflix Interesse erzeugt. Ein erfahrener, höchst erfolgreicher Filmemacher, der über Jahre hinweg für ein Projekt kämpft, weil er davon überzeugt ist? Noch einmal: Jemand wie Hwang Dong-hyuk ist ein Profi, der weiß, was funktioniert und was nicht. Und ein Unternehmen wie Netflix kauft ein Projekt nicht, weil der Gegenüber schöne Augen hat. Auch im Hause Netflix wird ein Projekt natürlich vor dem Go auf Herz und Nieren geprüft. Und dabei scheinen die Verantwortlichen zu dem Ergebnis gekommen zu sein, ein international vermarktbares Projekt präsentiert bekommen zu haben. In der Geschichte steckt ein K-Drama. Die Geschichte ist dramatisch, brutal, gesellschaftskritische bis ätzend, der Umgang der Figuren miteinander ist rau und der Held muss leiden, böse leiden, um überhaupt auch nur in die Nähe einer möglichen Erlösung zu gelangen. Das sind Zutaten von K-Dramen. Wenn Drama, dann bitte richtig! Auf der anderen Seite ist die Geschichte aber nicht zu „koreanisch“. Da ist das Spiel, bei dem man viel Geld gewinnen kann und es geht um Gier: Wie weit würdest du gehen, wenn du die Möglichkeit hättest, reich zu werden? Das ist eine universelle Fragestellung, die über einzelne Kulturkreise hinaus funktioniert.

Es ist also anzunehmen, dass man es sich im Hause Netflix mit der Entscheidung einer Produktion nicht allzu schwer gemacht haben wird. Wer jedoch behauptet, mit einem Erfolg in diesen Dimensionen auch nur ansatzweise gerechnet zu haben, erzählt noch ganz andere Märchen.

Lautet die Überschrift nicht, einen Erklärungsversuch für den Erfolg unternehmen zu wollen? Ja, so lautet die Überschrift. Doch manchmal versagt selbst der Filmanalyst und muss sich eingestehen: Es mag viele Erklärungsansätze geben. Aber so etwas wie die eine Erklärung, die gibt es schlichtweg nicht.

Nun ist «Squid Game» nicht die erste koreanische Serie, die sich ein treues Fandom auf Netflix erarbeitet hat. «Kingdom» hat es bislang auf zwei Staffeln gebracht, eine dritte Staffel wird gerade gedreht, ein Spielfilm-Spin-off wurde gedreht und ein weiteres Spin-off ist in der Planung. Das klingt erst einmal überraschend für eine Serie, die im Korea des 17. Jahrhunderts spielt und viel, viel Geschichte in der Handlung verarbeitet. Aber «Kingdom» hat auch viele, viele Zombies zu bieten. Und Zombies gehen immer. «Squid Game» hat keine Zombies, «Squid Game» hat Gi-hun, einen glückspielsüchtigen, hochverschuldeten Mittvierziger, der seine Ehe den Bach hinuntergespült hat und bei seiner Mutter lebt, weil er sich nichts anderes leisten kann. Dieser Gi-hun ist anfangs nicht einmal sympathisch, sondern ein Gernegroß, der seine Situation überspielt und nicht einmal davor zurückschreckt, seine eigene Mutter, wahrscheinlich den einzigen Mensch, der ihn noch liebt (neben seiner Tochter, die natürlich bei der Mutter lebt), zu beschimpfen und gar zu bestehlen. Gi-hun ist wahrlich nicht der Typus eines Helden, mit dem normalerweise Serien ein Publikum vor den Fernseher fesseln. Oder ist es eben die Tatsache, dass Gi-hun fehlbar ist, die ihn für uns interessant macht – weil wir für ihn Mitleid empfinden und daher eine emotionale Verbindung zu ihm aufbauen können?



Das wäre durchaus möglich. Erklärt aber auch nicht im Ansatz, wie das Phänomen «Squid Game» hat entstehen können. An der Werbung lag es auch nicht. Die gab es nämlich nicht. «Squid Game» hat die britische Serie «Bridgerton» von Platz 1 der erfolgreichsten Netflix-Serien gestoßen: Eine Serie, für die Netflix auf vielen Kanälen sehr viel Werbung betrieben hat. Vor allem in Mitteleuropa und Nordamerika gab es keinen Artikel, der nicht die Diversität der Serie über den Klee hinaus gelobt hätte! Ob Online-Teenie-Magazin, bürgerliches Zeitungsfeuilleton oder öffentlich-rechtliche Kulturberichterstattung: Schon vor dem Start der Serie wurde über den Bruch der Sehgewohnheiten berichtet und über die „farbenblinde“ Besetzung der Hauptrollen. «Bridgerton» ist in nicht wenigen Vorabberichten zum Start in ein neues Serienzeitalter erklärt worden, das für alle Zeiten die Besetzungslisten verändern würde. Dass «Bridgerton» nebenbei auch eine Serie voller wunderschöner, junger Menschen ist, die in ihren klassischen Kostümen noch einen Tick begehrenswerter aussehen als in der Realität der Gegenwart - und dass in dieser Serie wirklich jedes Geschlecht einen Charakter zum Anschmachten findet: Das ist natürlich nur ein Zufall und hat ganz bestimmt nichts mit der Vermarktbarkeit der Serie zu tun.

Der Nerv wurde getroffen


Natürlich hat die Handlung von «Squid Game» einen Angstnerv westlicher Gesellschaften berührt: die Angst vor einem Abstieg aus der Mitte. Gi-hun, das wird im Laufe der Handlung klar, hat einst in einem anständigen Job gearbeitet, hatte Frau und Kind und alles in allem – ging es ihm wohl gut. Er war ein unauffälliger, fleißiger Mann. Bis die Spielsucht kam. Es hätte auch ein Jobverlust sein können oder eine Erkrankung. Auf jeden Fall ist da dieser Moment, in dem er aus seinem geordneten Mittelstandsleben herausgefallen ist. Für die Handlung von «Squid Game» ist es im Grunde unerheblich, ob er selbst Schuld ist oder ein Opfer äußerer Umstände. Für die Handlung zählt alleine, dass Gi-hun nicht mehr in dieser Mitte steht, womit er ein Unsichtbarer wird.

Die Angst vor dem Abstieg – sie ist diffus. Da stehen oft Menschen in besten Angestelltenverhältnissen und haben dennoch Sorge vor dem Morgen. Man weiß nicht, was kommen wird.

Und dann ist da die Digitalisierung. Arbeitswelten verändern sich. Einst sichere Jobs gehen verloren (siehe den Niedergang der einst stolzen amerikanischen Stahlindustrie als ein Beispiel für einen Niedergang, der tatsächlich stattgefunden hat). Gesellschaften verändern sich, werden bunter, die Welt wird nicht einfacher. Und mag es einem persönlich auch heute noch gut gehen, wer sagt, dass das so bleibt? Gab es früher nicht Zinsen fürs Ersparte? Wo sind die geblieben? Wo kommt aktuell eigentlich die Inflation her? Wer kann sich diese Energiepreise noch leisten?

In diese Unsicherheit, die viele (nicht nur) westliche Gesellschaften seit Jahren umhertreibt - stößt eine Serie wie «Squid Game» hinein. Gi-hun hat den Abstieg erlebt. Und dann besteht die einzige Chance für ihn, in die Gesellschaft zurückzukehren, darin, dass er ein Spiel gewinnt, an dessen Ende ein Geldtopf von umgerechnet über 33 Mio Euro auf ihn warten. Mit diesem Geld würde er nicht einfach nur in die Mitte der Gesellschaft zurückkehren: Er würde diese Mitte sogar überholen. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Auch so ein Mythos, der nicht totzukriegen ist. Das einzige moralische Dilemma, vor dem er steht: Wenn er gewinnt, bedeutet das, dass all seine 455 Mitspielerinnen und Mitspieler tot sein werden.



Ja, die Handlung ist vielschichtiger als auf den ersten Blick ersichtlich. Die Kulissen, die Kostüme, die Kinderspiele, die zu Todesfallen werden: Das alles sieht visuell gut aus. Am Ende wird die Serie jedoch von der Handlung und ihren Hauptfiguren getragen. Hauptfiguren wie dem alten Oh Il-nam, der an einem Gehirntumor leidet und nicht einfach auf seinen Tod warten will. Oder da ist Gi-huns Jugendfreud Cho Sang-woo, der eine richtig große Karriere gemacht – und dann sehr viel Geld veruntreut hat. Nicht aus Gier, sondern um begangene Fehler zu vertuschen, was unweigerlich in einem Teufelskreislauf enden musste. Ali Abdul ist derweil ein Pakistani, der illegal im Land lebt und für sich und seine Familie nur eine bessere Zukunft erträumt. Schließlich gehört zu den Protagonisten Kang Sae-byeok, eine aus Nordkorea geflohene junge Frau, die einfach nicht in diese Gesellschaft passen will, in der sie in ihrer Wahrnehmung einen Fremdkörper darstellt. Und während all diese Charaktere, für die man irgendwie Sympathie und Zuneigung empfindet (oder auch Enttäuschung) in Kinderspielen um ihr Leben kämpfen, sitzen in den Logen ein paar reiche Herren ohne Namen und erfreuen sich an dem Gemetzel. Woran soll man sich auch sonst noch erfreuen, wenn man alles besitzt, was man besitzen kann?

Ja, die Handlung ist schon nicht schlecht. Die Charaktere sind klasse. Die Schauspieler agieren ohne Fehl. Visuell ist das alles sehr ansprechend inszeniert. Die Spannungsmomente sind wohlgesetzt. Emotional ist das packend. Aber ganz ehrlich, warum ausgerechnet [[Squid Game derart abgegangen ist …?

Manchmal muss man ein Phänomen wohl einfach als solches akzeptieren.
12.06.2022 12:06 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/134808