«The Gray Man»: Die teuerste Filmproduktion von Netflix

Beim Fußball schießt Geld Tore, aber kann man mit großen Budgets auch großartige Filme umsetzen?

200 Millionen US-Dollar - so viel Geld ließ der Streaming-Anbieter Netflix springen, um mit «The Gray Man» den teuersten Spielfilm ihrer bisherigen Firmengeschichte zu realisieren. Da schenkte man den Regisseuren Anthony und Joe Russo viel vertrauen - nicht zuletzt, weil sie mit «Avengers: Endgame» einen der profitabelsten Kinofilme der Filmgeschichte drehten. Mit einem Einspielergebnis von knapp 2,8 Milliarden Dollar weltweit stand die Marvel-Comicverfilmung sogar kurz auf Platz eins der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, wurde dann aber durch einen chinesischen Wiedereinsatz von James Camerons «Avatar» wieder auf den zweiten Platz verbannt. Klar, dass Netflix hohe Erwartungen in «The Gray Man» setzt, und so ein Juwel verdient dann auch einen kleinen Kinoeinsatz, wo die prächtig inszenierten Actionszenen dieses Agententhrillers erst richtig zur Geltung kommen. Nichtsdestotrotz läuft «The Gray Man» nach einwöchigem Kinoeinsatz für alle Abonnenten von Netflix zugleich auch auf der eigenen Plattform. Wer also die Wahl hat, sollte sich den Film trotzdem lieber außer Haus ansehen. Denn das, was man zu sehen bekommt, gehört tatsächlich auf die große Leinwand.

Verrat in den eigenen Reihen
Keiner killt so schnell wie Court Gentry (Ryan Gosling), weshalb er im Knast sitzt und schnell das Interesse von CIA-Chef Donald Fitzroy (Billy Bob Thornton) weckt. Seitdem ist Gentry unter dem Decknamen Sierra Six als Auftragskiller für den Geheimdienst unterwegs und erledigt die schmutzigsten Jobs. Als er aber einen Mann aus den eigenen Reihen eliminieren soll, kommen ihm Zweifel. Damit gerät Gentry ins Visier des abtrünnigen CIA-Kollegen Carmichael (Rége-Jean Page), der verhindern will, dass ihm in die Karten geschaut wird. Carmichael setzt einen gewissen Lloyd Hansen (Chris Evans) auf Court an, der aber weiß, wie man sich aus tödlichen Fallen befreit. Daher entführt der wutentbrannte Hansen mit seiner Privatarmee den Gentrys Mentor Fitzroy und dessen kleine Nichte Claire (Julia Butters). Damit will er seinen Gegner aus dem Versteck locken. Es beginnt eine heiße Verfolgungsjagd quer durch Europa bis nach Prag, wo sich Hansen und Gentry zum Showdown Auge um Auge gegenüberstehen.

Guter Killer, böser Killer
Die Story klingt nach einem soliden Agententhriller, und nicht mehr sollte man sich von «The Gray Man» erwarten. Dafür aber mit allen Zutaten, die man diesem Genre zuschreibt: Eine Vielfalt von sehenswerten Schauplätzen, motorische Verfolgungsjagden in einem Wahnsinnstempo, anständig choreografierte Zweikämpfe und immer wieder Schießereien und Explosionen. Wer das mag, ist hier absolut richtig. Ein ausgeklügeltes Drehbuch nach dem gleichnamigen Roman von Mark Greaney wäre vielleicht wünschenswert gewesen, aber genau wegen seiner Geradlinigkeit lässt man sich von dem übersichtlichen Plot zwei Stunden lang gern mittreiben, ohne viel nachdenken zu müssen. Das ist Popcorn-Kino pur, zumal auch die Grenzen zwischen Gut und Böse klar gezogen werden. Dabei hat Chris Evans, der für die Russo-Regie-Brüder zuvor als «Captain America» schon so oft die Welt gerettet hat, sichtlich Spaß daran, hier mal den irren Schurken zu geben. Das geht oft sogar in Richtung Overacting, entspricht aber der comicartigen Machart dieses Actionthrillers. Alles ist ein bisschen ‚Over the Top‘!

Besser als Bond?
Bis auf Ryan Gosling, der wirkt mit seiner sich auferlegten Coolness oft wie ein Fels in der Brandung, dadurch aber auch versteinert. Nicht in Hinblick auf seine körperliche Vitalität, aber was Mimik und Emotionalität angeht, lässt man sich von ihm nicht wirklich mitreißen. Schon von daher bedarf es des Aufplusterns von Chris Evans, um dem Schlaftablettenblick von Ryan Gosling etwas entgegenzusetzen. In ihrer körperlichen Erscheinung wirken beide wiederum austauschbar. Da wetteifern die zwei Herren mit Muskel- und Schlagkraft, was in eine handfeste Prügelei kurz vor Ende mündet. Der Kampf zwischen Gut und Böse wird letztlich immer noch mit der Faust entschieden. Das ist konzeptionell immer noch besser als das, was uns im letzten Bond «Keine Zeit zu sterben» hingelegt wurde - und mit Bond, dem König aller Leinwand-Agenten, muss sich auch «The Gray Man» vergleichen lassen.



Zwar hat Ryan Gosling als Court Gentry noch nicht das Charisma, um in Serie gehen zu können, aber Autor Mark Greaney hat inzwischen so viele Nachfolgeromane über seinen Helden geschrieben, dass darüber sicherlich schon laut nachgedacht wird. «Keine Zeit zu sterben» spülte weltweit trotzdem 775 Millionen Dollar in die Kinokassen. Davon kann ‚der graue Mann‘ nur träumen, obwohl er vielleicht sogar das Potential dazu hätte. Aber Netflix verfolgt weiterhin eine andere Strategie, durch die sich der Konzern aber ebenso hoch verschuldet hat. Ein Umdenken wäre vielleicht angebracht, um eine gemeinsame Strategie mit der Kinobranche anzustreben. Das kann aber nur heißen, dass Zeitfenster für eine Kinoauswertung von Netflix-Filmen vergrößert zu müssen, um auch hier zu Gewinne zu maximieren.

Fazit: Mit einem Budget von 200 Millionen US-Dollar ist «The Gray Man» die teuerste Netflix-Produktion aller Zeiten. Auf der großen Leinwand kommt der solide Actionkracher natürlich viel besser zur Geltung und kann sich durchaus auch mit Bond messen lassen.

«The Gray Man» ist bei Netflix verfügbar.
27.07.2022 12:06 Uhr  •  Markus Tschiedert Kurz-URL: qmde.de/135735