Ein Mann wird in ein Krankenhaus irgendwo im australischen Outback eingeliefert. Sein Gedächtnis ist ausgelöscht, er hat nicht den Hauch einer Ahnung, wer er ist oder was er in Australien verloren hat. Tatsache ist allerdings, irgendjemand will ihn aus dem Weg räumen.
Stab
BUCH: Harry und Jack Williams
REGIE: Christopher Sweeney (1-3), Daniel Nettheim (4-6)
KAMERA: Ben Wheeler (1-3), Geoffrey Hall (4-6)
SCHNITT: Emma Oxley, Charlene Short, Mark Keady
MUSIK: Dominik Scherrer
PRODUZENTIN: Lisa Scott
DARSTELLER: Jamie Dornan, Danielle Macdonald, Shalom Brune-Franklin, Ólafur Darri Ólafsson, Geneviève Lemon, Greg Larsen, Damon Herriman, Alex Dimitriades
Hinter dem britisch-australischen Sechsteiler stehen Harry und Jack Williams, die mit Formaten wie «Fleabag», «Rellik» oder «Baptiste» einige Thrillerserien in den letzten Jahren ins Rennen um die Zuschauergunst geschickt haben, die aufhorchen ließen. In ihrer britischen Heimat gehören die Brüder denn auch zu den Top-Autoren des modernen, vom Writer's Room getriebenen Serienfernsehen. Für ihre neue Serie haben sie sich eines durchaus klassischen Motivs des Kriminalfilmgenres bedient: Dem Mann ohne Gedächtnis. «Fifty Shades of Grey»-Hauptdarsteller Jamie Dornan stellt diesen Mann ohne jegliche Erinnerungen dar. Und nach spätestens fünf Minuten hat man diese «Fifty Shades...» verdrängt, denn Dornan dominiert den Bildschirm grandios (dass er bereits in Serien wie «The Fall» brillieren durfte, sei nur am Rande erwähnt). Gerade die Tatsache, dass der Mann ohne Namen kein Lautsprecher ist, sondern ein eher zurückhaltender, freundlicher Typ, macht es nicht einfach, ihm jene Präsenz zu verleihen, die Dornan ihm zu verleihen versteht. Aber Dornan beherrscht mit jeder Szene, in der er auftritt, die Szenerie.
So also beginnt es: Der Fremde (Jamie Dornan) wacht in einem Krankenhaus auf. Er hatte einen Unfall, das ist klar. Aber wie es zu dem Unfall gekommen ist? Daran kann er sich nicht erinnern. Überhaupt sind seine Erinnerungen ausgelöscht. Sein Name ist fort, sein Beruf ist fort. Was er im australischen Outback wollte? Er hat nicht den Hauch einer Ahnung. Leider geht in der deutschen Synchro der Aspekt unter, dass er auch nicht wie ein Australier spricht. Er scheint ein Ausländer zu sein. Oder ist er ein Einwanderer? Der Fremde berührt das Herz der Streifenpolizistin Helen Chambers, die sich noch in Ausbildung befindet und eigentlich nur den Unfall aufnehmen soll. Dass der Mann, der in dem Wagen saß, kein Gedächtnis mehr hat, erfährt sie erst im Krankenhaus. Und dass der Fremde dann auch noch aus dem Krankenhaus verschwindet, macht die Geschichte nicht gerade einfacher. Nur entdeckt der Mann ohne Namen eine Notiz, die er offenbar selbst geschrieben hat. In seiner Verzweiflung geht er dieser einen Spur nach, die ihn in ein Diner führt, in dem er die Kellnerin Luci kennenlernt, der er sein Schicksal erklärt. Kann sie zunächst nicht glauben, dass da ein Mann ohne Gedächtnis in ihrem Diner sitzt, kommt sie doch bald mit ihm ins Gespräch. Als er das Diner verlässt, niemand kennt ihn hier oder hat ihn je gesehen, begleitet sie ihn noch nach draußen und überlebt so die Explosion, die den Schnellimbiss heimsucht...
«The Tourist – Duell im Outback» ist verdammt clever geschrieben. Die erste Episode zieht sich etwas. Da ist der Fremde ohne Namen, da stehen die Fragen nach seinem Unfall im Raum (von dem das Publikum, diesen Wissensvorsprung gewähren die Autoren den Zuschauern, weiß, dass es kein normaler Unfall gewesen ist), aber wirklich viel passiert nicht. Die Episode nimmt sich Zeit, um die Polizistin Helen Chambers etwas ausführlicher vorzustellen. Helen ist übergewichtig und ein ziemlich unsicherer Typus von Mensch. Bei der Polizei setzt man sie nur für Hiwi-Aufgaben ein, ihr Verlobter bevormundet sie. Helen ist nicht gerade das, was man eine Heldin nennen würde. Durch die sehr ausführliche Einführung ihrer Person steht allerdings von Anfang an fest, dass ihre Rolle wohl etwas größer ausfallen wird – es ist demnach auch keine Überraschung, dass sie im Verlauf der Serie über sich hinauswachsen wird. Vor allem aber stellt die von der australischen Schauspielerin Danielle Macdonald verkörperte Figur einen angenehmen Gegenpol zu Chief Constable Lachlan Roges (Damon Herriman) dar, der nach der Explosion im Diner die Suche nach dem Mann ohne Namen aufnimmt und mal überheblich und mal arrogant agiert. Allerdings beherrscht dieser Polizist seinen Job, wenngleich die Entscheidungen, die er trifft, oftmals irritieren. Warum das so ist?
In «The Tourist» gibt es keine Zufälle. Nach der eher behäbigen ersten Episode beginnt das wirklich spannende Spiel mit der Explosion im Diner. Schon das Ende der zweiten Episode überrascht nicht etwa mit einer kleinen, unvorhergesehenen Wendung. Diese Wendung ist eine Links-Recht-Ohrfeigenkombination, die in einem einzigen Moment die gesamte Handlung vollkommen auf den Kopf stellt. Eine Kunst der Erzählung liegt nun darin, dass «The Tourist» ein Dutzend solcher Wendungen kreiert, keine dieser Wendungen aber der Wendung wegen geschieht. Jeder Moment, in dem die Geschichte eine neue, überraschende Wendung einnimmt, ergibt sich aus dem, was zuvor geschehen ist. Die Story verliert sich nie in sich selbst, die bleibt immer nah an den Figuren und dem Geschehen im Outback. Einem Geschehen, das mit fortlaufender Spielzeit zwar immer komplexer, aber auch klarer wird – ohne zu verraten, wer der Mann ohne Namen ist. Ist er ein Gangster? Ist er vielleicht ein Polizist? Oder ist er tatsächlich nur ein Tourist im Outback, der einfach am falschen Tag am falschen Ort gewesen ist?
In Großbritannien war die Serie der Hit des Frühjahrs sowohl während seiner linearen Ausstrahlung um die Jahreswende als auch bei der Veröffentlichung im BBC-iPlayer (im ersten Quartal des Jahres war sie dort die Nummer 1 aller Fiction-Formate). Nach einigem Hickhack bezüglich einer möglichen zweiten Staffel wird diese wohl nun tatsächlich in Produktion gehen. Diesbezüglich sei an dieser Stelle ein Spoiler – oder eine Entwarnung? - erlaubt. Die BBC ist dafür berühmt-berüchtigt auch Serien nicht fortzusetzen, die erfolgreich im Programm gelaufen sind. Niemand außerhalb der BBC versteht die Kriterien, nach denen Fortsetzungen- und Nicht-Fortsetzungen wirklich entschieden werden. Es ist eines der großen Mysterien der televisionären Gegenwart. Dessen sind sich offenbar auch die Brüder Williams bewusst gewesen, weshalb sie ein Ende für diese sechs Episoden kreiert haben, mit dem sie die Serie auch hätten beschließen können. Innerhalb ihres Erzählkosmos kommt die Serie zu einer Auflösung. Kunstvoll werden alle relevanten Handlungsstränge nach und nach zusammengeführt, bis zum Showdown. Was bleibt, das sind einige Fragen, die man als Hintertürchen bezeichnen könnte, die die Autoren für eine etwaige Fortsetzung offengelassen haben. Aber, um dies noch einmal zu betonen: Auch mit der Auflösung am Ende dieser sechs Episoden lässt es sich gut leben.
Eine Frage, die sich allerdings nicht beantworten lässt: Warum hat das ZDF in diese Produktion eigentlich Geld investiert? Gut, am internationalen Lizenzverkauf dürfte ZDF Enterprises sicher ein paar Euro verdienen. Wenn es nur ums Geld geht, hat man in Mainz alles richtig gemacht. Sich selbst hat man die Rechte für den deutschen Markt gesichert, international gibt es Lizenzgebühren. Schlecht wäre es allerdings auch nicht, wenn deutsche Fernsehmacher an einer solchen Serie mitarbeiten würden, und sei es in Assistenz. Ein Problem des deutschen Serienfernsehens besteht darin, dass man hierzulande das Goldene Zeitalter weitestgehend verschlafen hat und lieber die dreihundertachtundsechzigste «Soko» ins Rennen schickt als sich wirklich etwas zu wagen. Sicher, es gibt «Dark», es gibt «Das Boot», «Babylon Berlin» und zwei, drei weitere Hochglanzproduktionen. Es könnte jedoch noch viel, viel mehr geben, würden deutsche Serienmacher die Chance bekommen, an hochklassigen Produktionen mitzuarbeiten – allein schon des Lernens wegen. Es gibt mit Sicherheit einige Serienmacher, die in der ersten Liga mitspielen, warum aber sollte diese Zahl nicht weiter ansteigen? Nachdem das ZDF den Skandinaviern schon geholfen hat, deren Thriller getriebenes Serienfernsehen aufzubauen, ohne letztlich davon selbst auf der Seite des Kreativen zu profitieren, kommt mit «The Tourist» nun das ganz große Erzählfernsehen mit deutschem Geld des Weges, nur fehlt es an den Machern hinter der Kamera, die sich im Outback ihre Sporen hätten verdienen können. Schade.
Das ZDF strahlt die Serie ab Montag, 22. August 2022, um 22.15 Uhr, aus. Bereits seit Freitag sind alle Folgen in der ZDFmediathek verfügbar.
13.08.2022 12:11 Uhr
• Christian Lukas
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