Mit dem Action-Blockbuster wollte Netflix ein eigenes Franchise aufbauen. Investiert man viel zu viel Geld für einen mittelmäßigen Erfolg?
Am Sonntag startet HBO mit der neuen Serie «House of the Dragon» den wohl nächsten großen Hit. Woche für Woche werden weltweit Millionen Menschen einschalten. Auch Amazon wird mit «Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht» eine eigene Fantasy-Serie an den Start bringen. Bei Netflix ist die Situation etwas verzwickter: Zwar hat man mit «Sandman» einen veritablen Hit geschaffen, doch der Effekt wird innerhalb weniger Wochen verpuffen. Mit Ausnahme von «Stranger Things» sind Netflix-Produktionen meist Strohfeuer. Lohnen sich da überhaupt große Investitionen?
Netflix investiert rund 200 Millionen US-Dollar in den Spielfilm
«The Gray Man», der aktuell beispielsweise hinter «Bird Box» rangiert. Das Drama mit Sandra Bullock war zwar kein Meilenstein in Sachen Unterhaltung, aber mit Mutproben im Internet hat man auf sich aufmerksam gemacht. 282 Millionen Stunden wurde das Drama um den Jahreswechsel 2018 gestreamt, damals kam Netflix auf etwa 140 Millionen Abonnenten. Das neue Action-Abenteuer mit Ryan Gosling und Chris Evans kam bei 220 Millionen Abonnenten nur auf 245,1 Millionen Streaming-Stunden in den ersten Tagen. Weitaus erfolgreiche Titel waren «Red Notice» (364 Millionen) und «Don’t Look Up» (259,8 Millionen), die deutlich preiswerter ausfielen.
Das jüngste Werk der «Avengers: Endgame»-Regisseure Anthony und Joe Russo hielt sich nur acht Tage lang an der Spitze der wöchentlichen Top10 des Streaminganbieters, innerhalb von einer Woche fielen die Aufrufe um 60 Prozent. Kurzfristig waren die Ergebnisse sehr gut, wenngleich Netflix auch versucht unfassbar lange Filme zu produzieren. «The Gray Man» (129 Minuten) wurde von dem romantischen Drama «Purple Hearts» (122 Minuten) abgelöst, das mit Sofia Carson besetzt ist.
«The Gray Man» ist zwar kein Flop und rangiert unter den vier meistgesehenen eigenproduzierten Netflix-Spielfilmen, aber Netflix verballert – im wahrsten Sinne des Wortes – Millionen. Viele Kollegen aus dem Feuilleton merkten kritisch an, wohin Netflix das Budget überwiesen hat. Die Zuschauer waren auch nicht gerade von «Gray Man» begeistert, dennoch will man ein gesamtes Film-Franchise entstehen lassen. Mit der bisherigen Angebotsstrategie von Netflix ist das nicht wirklich mehr als ein Schnellschuss.
Disney+ hat mit «Star Wars»- und «Marvel»-Serien ein eigenes Franchise abseits des Kinos geschaffen. Es wurden bislang nur einzelne Episoden pro Woche veröffentlicht – und nicht etwa wie bei Netflix die gesamte Staffel auf einen Schlag. Wer also die Abenteuer von Superhelden oder von fernen Sternen sehen möchte, muss jeden Monat sein Geld bei Disney+ abdrücken. Trotz dieser Probleme rückt Netflix nicht von seinem Kurs ab.
Dabei ist die komplette Veröffentlichung von Serien inzwischen – abseits des Unternehmens aus Los Gatos – inzwischen ein Auslaufmodell geworden. Bei HBO werden weiterhin die Top-Serien sonntags ausgestrahlt, die dann hierzulande bei Sky am Montag verfügbar sind. Selbst Amazon rückte mit «The Boys» vom Binge-Watching-Kurs ab und wird nur bei «Der Herr der Ringe» zum Auftakt zwei Episoden präsentieren. Andere Streamingdienste wie Paramount+ bleiben bei der wöchentlichen Ausstrahlung.
Apropos Paramount: Das Unternehmen hat erfolgreich seine Serienwelt von «Star Trek» wiederbelebt und damit ein regelrechtes Wachstum in den Vereinigten Staaten von Amerika eingeleitet. Der Disney-Konzern wächst mit seinen Marken Hulu und Disney+, auch international kommt man bei der Expansion gut voran. Die Verantwortlichen bei Netflix begreifen allerdings nicht, dass sich mit großen Blockbustern viel Geld verdienen lässt – sofern man sie auch im Kino ausspielt.
Zudem kann man mit solchen Action-Streifen wie «The Gray Man» kein Merchandising-Franchise betreiben. Da eigenen sich die Figuren aus dem «Star Trek»-, «Star Wars»- oder Marvel-Universum weitaus besser. Netflix hat inzwischen ein wenig dazugelernt und bietet bald Produkte von «Stranger Things» an. Aber wer bitte investiert sein Geld in ein «Gray Man»-T-Shirt?
Netflix-Filmchef Scott Stuber teilte vor Kurzem mit, man wolle „weniger und bessere“ Filme anbieten. Doch mit den zuletzt geleasten Inhalten hat sich der Konzern keinen Gefallen getan. Ohnehin gilt Netflix schon seit Jahren als Grabbeltisch für schlechte Produktionen. Mehrere US-Blockbuster landeten nicht im Kino, sondern bei dem Streamingdienst. Die Kritiken waren schlecht, aufgrund des enttäuschenden Filmjahres durch die Pandemie hat man aber sogar mehrere Oscar-Nominierungen erhalten. Netflix verschießt also viel Geld für kleine Effekte.