«1899»: Tod durch Etikettenschwindel?

Nach nur einer Staffel zog Netflix bei seiner Prestigeserie aus Deutschland die Reißleine. Warum sind die Zuschauer mit diesem Stoff nicht warm geworden?

Schluss, aus und vorbei – obwohl erst im Dezember unter großem Tamtam gestartet, hat Netflix einen der größten Serienneustarts des vergangenen Jahres schon wieder eingestampft. Eigentlich hätte die Meldung über die Absetzung von «1899» in der Branche einschlagen müssen wie eine Bombe. Schließlich war unverkennbar, welch enormer Produktionsaufwand – und welche Kosten – in dieses Projekt investiert worden sind und wie viel sich der Streamer aus Los Gatos sowie die Kreativen vor und hinter der Kamera und nicht zuletzt der Filmstandort Berlin von diesem Projekt erhofft haben. Doch das Endprodukt dürfte einfach nicht genug Fans gefunden haben, um eine teure Fortsetzung zu rechtfertigen. Woran hat es also gelegen?

Wahrscheinlich nicht an den ersten Folgen, die die Zuschauer noch in eine toll ausgestaltete Welt entführt haben: Auf hoher See im späten 19. Jahrhundert ereigneten sich in dieser Serie ungeheuerliche Dinge, denen die Passagierin Maura Franklin und der Kapitän Eyk Larsen mit immer größerer Verbissenheit auf den Grund gingen, zusammen mit immer weiteren Mitgliedern der Besatzung und etlichen Zivilsten. Doch obwohl man schon früh ahnen konnte, dass auf diesem Schiff nichts so war, wie es schien, und deshalb auch viele Aha-Effekte und entsprechend große Wendungen zu erwarten waren, hat wohl niemand mit den halsbrecherischen Verrenkungen gerechnet, die die zweite Hälfte der ausgestrahlten Folgen durchmachte, um bei einer extrem enttäuschenden Auflösung auszuklingen.

Denn die Kerberos – so der Name des alten Schiffes – schipperte gar nicht durch den Atlantik, sondern nur durch eine Computersimulation, in die sich auch alle Protagonisten zugeschaltet hatten. Und streng genommen war schon der Titel eine Irreführung: Die Serie spielte nämlich überhaupt nicht im Jahr 1899, sondern 200 Jahre später in einem Raumschiff, das sich durch das Weltall bahnte und wohl ein wenig außer Kontrolle geraten war, wenn man den Andeutungen in den letzten Minuten Glauben schenken darf.

Die atmosphärische Welt, die den Zuschauern mit so viel Akribie vorgestellt wurde? Alles nur Bits und Bytes, die Maura erschaffen hatte, um den Tod ihres Sohnes zu verarbeiten, bis sie dann aus dieser fiktiven Welt irgendwann nicht mehr herausfand, weil sie ihr wirkliches Leben vergessen hatte. Statt einem Schiffsmysterium in einer faszinierenden Vergangenheit also ein Realitätsfluchtsdrama irgendwann in der Zukunft, das uns ausmalt, was passieren könnte, wenn sich die Menschheit ganz in der virtuellen Welt verliert.

Doppelt enttäuschend, weil man einen ähnlich radikalen Kniff schon von der anderen großen Serie kennt, die aus der Feder von Baran bo Odar und Jantje Friese stammte: Auch «Dark», 2017 ebenfalls unter großer Furore bei Netflix gestartet, entwickelte sich irgendwann in ganz andere Bahnen, als der Stoff eigentlich zunächst erahnen ließ, und verlor sich in unheilvoll komplizierten Nebenschauplätzen und einem unübersichtlichen Figurenwust, den am Ende kaum noch ein Zuschauer durchdringen wollte. «1899» hätte wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal geblüht – und somit war es wohl auch keine falsche Entscheidung von Netflix, an dieser Stelle die Reißleine zu ziehen.
09.01.2023 11:20 Uhr  •  Oliver Alexander Kurz-URL: qmde.de/139379