Volker Heise: ‚Ab Februar 1933 sind alle Aufnahmen Propagandaaufnahmen‘
Drei Jahre benötigte der «Gladbeck»-Regisseur für seine Dokumentation über das Berlin 1933. Heise beklagt die steigende Preise für Archivmaterial.
Ihre Dokumentation «Berlin 1933» ist am Samstag, den 28. Januar, um 20.15 Uhr beim rbb Fernsehen zu sehen. Die Hauptstadt galt damals als florierende Metropole, aber schon kurze Zeit später veränderte sich die Zeit.
Ja, die Stadt veränderte sich, sogar sehr schnell. Die Nationalsozialisten übernahmen mit den Deutschnationalen und anderen Verbündeten Ende Januar 1933 die Macht und bauten die Gesellschaft mit Gewalt und Propaganda um, wobei ihnen zunehmend die staatlichen Instrumente zur Verfügung standen, also Polizei, Militär, Verwaltung. Aus einer offenen Gesellschaft wurde bis Mitte des Jahres eine gleichgeschaltete Gesellschaft, in der es nur noch eine Partei, eine Ideologie, eine Idee gab, der alle zu folgen hatten, wollten sie nicht eingesperrt werden und ihr Leben riskieren. Das galt für die politische Opposition, das galt aber auch für Juden, Sinti und Roma, und bald auch für Homosexuelle. Und diese Entwicklung erzählen wir in einer Art Tagebuch, Schritt für Schritt.
Sie haben bei der Dokumentation, die 90 Jahre nach den Ereignissen spielt, zahlreiche alte Wochenschauen und Amateuraufnahmen gesichtet. Wie viel Zeit umfasst eine Recherche für so einen großen Doku-Film?
Drei Jahre Planung mit erster Grundlagenrecherchen, ob das Projekt überhaupt möglich ist, dann eine intensive Suche in den Archiven, was ungefähr ein Jahr dauert. Das mache ich nicht allein, dahinter steht ein Team von Kolleginnen und Kollegen, alleine würde ich es nicht bewältigen. Nach Material gesucht wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England oder den USA. Ich hätte auch gerne in Russland suchen lassen, was aber nicht ging angesichts der aktuellen Lage.
Bei Ihnen kommen auch normale Bürger, der Publizist Harry Graf Kessler genauso wie die Witwe Clara Brause zu Wort. Wie muss man sich die Spur nach all diesen Aufnahmen vorstellen? Welche Mühen mussten Sie anstrengen?
Bei Intellektuellen wie Harry Graf Kessler wird man schnell fündig, die Tagebücher sind veröffentlicht und zugänglich, sie schreiben ja sowieso, das ist ihr Tagesgeschäft. Aber wenn man nach Tagebüchern oder Briefen von Arbeiterinnen, Angestellten, Beamten, nach Sekretärinnen oder Hausfrauen sucht, nach den Leuten, die die Arbeit machen, dann muss man Glück haben und lange in Archiven suchen und viel Staub schlucken und beten, fündig zu werden. Es bleiben auch immer Lücken, etwa in der Arbeiterschicht, wir haben lange gesucht, ohne großen Erfolg.
Wir kennen die Bilder aus der ARD-Serie «Babylon Berlin», aber jede dritte Person war damals in Berlin arbeitslos. Dieser Zwiespalt ist auf den Aufnahmen meist nicht zu sehen. Schaute man damals oftmals bewusst weg, um den Glamour der Stadt nicht zu gefährden?
Ab Februar 1933 sind alle Aufnahmen, die von offizieller Seite gemacht wurden, nicht nur für die Wocheneschauen, Propagandaaufnahmen. Die sollten die schönen oder imposanten Seiten des 3. Reichs zeigen, die Leute beeindrucken und waren alle inszeniert. Wir haben diese Aufnahmen im Schnitt auseinandergenommen, neu zusammengesetzt, mit gegenläufigen Stimmen und Töne konfrontiert, um ein neues Bild zu erzeugen, das die Propaganda unterläuft. Vor Februar 33 gibt es auch Bilder vom Elend in der Stadt, aber Filmmaterial war knapp und teuer und nur wenige stehen im Licht.
Wäre eigentlich eine solche Machtübernahme wie es 1933 in Berlin vonstattenging heute noch möglich? Immerhin haben wir Smartphones, das Internet und Wikipedia…
Eine demokratisch legitimierte Machtübernahme durch eine undemokratische Partei ist immer möglich, neue Medien sind keine Verbesserung der Lage, sie sind nur neu. Man muss sich nur in Europa umsehen oder in den USA, wo die Demokratie in einer Gefahr war, die von einem abgewählten Präsidenten ausging, um einen gewissen Ernst zu erkennen. Aber wenn in Deutschland eine radikale Partei an die Macht kommen sollte, wird diese Partei ein anderes Gesicht haben als die NSDAP und die Motive ihrer Wähler werden andere sein. Ich würde nicht empfehlen, die Vergangenheit als eine Art Blaupause zu betrachten, mit der man die Gegenwart lesen kann.
Sie sagen in Ihrer Dokumentation, die Vergangenheit ist „fern und nah zugleich“. Könnten Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) in Deutschland als Partei wirklich gefährlich werden?
Nah ist diese Vergangenheit, weil wir in einer Zeit der Transformation leben, wo viele Parameter sich ändern, von den Medien über die globalen Machtverhältnisse bis zum Klima und zu Rollenbildern, und diese Veränderungen machen Angst und bewegen die Menschen. Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre war auch eine Zeit der Transformation, auch damals hatten die Menschen Angst und fühlten unsicheren Grund unter ihren Füßen. Fern ist diese Zeit, weil die Antworten und die Formen der Antworten heute wahrscheinlich ganz anders ausfallen werden als damals. Wie gesagt: Der Blick in der Vergangenheit kann auch blind machen für die Gegenwart. Zur AfD fällt mir nichts ein.
Die Nationalsozialisten warben schon 1920 damit, dass Juden im Falle einer „Ernährungskrise“ ausgewiesen werden. Wieso störten sich damals kaum Menschen an diesem Antisemitismus?
Es störten sich schon viele Menschen am Antisemitismus, aber nicht genug. Der Antisemitismus war damals weit verbreitet, bis in die gute Gesellschaft hinein, in das Bürgertum, auch eine Art Erkennungszeichen der konservativen Eliten. Da stinkt der Fisch vom Kopf her.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg muss sparen. Merken Sie das selbst als Filmemacher schon?
Noch nicht.
Wie blicken Sie auf die zahlreichen Doku-Serien, die beispielsweise die Streamingdienste auf den Markt werfen. «Pepsi, Wo ist mein Jet?» & Co. haben ja nicht viel mit einem dokumentarischen Stil zu tun. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr?
Ich schaue manchmal auch Dschungelcamp, man muss ja wissen, was die Zivilisation bewegt, und hin und wieder ist die affirmative Berichterstattung darüber noch hässlicher als das Ausgangsprodukt. Und natürlich hat sich der Markt für Dokumentarfilme und Dokumentationen wie Nebenprodukte bis hin zu Reality in den letzten Jahren enorm ausgeweitet und ist als Goldgrube entdeckt worden, im Guten wie im Bösen. Es ist die Kommodifizierung eines Bereiches der Kultur, der bis vor wenigen Jahren nicht dem Markt ausgesetzt war, jedenfalls nicht in umfassender Weise wie jetzt. Ein Barometer für diese Entwicklung sind die immer weiter steigenden Preise für Archivmaterial. Es wird mittlerweile als kostbare Ware gehandelt und nicht als kulturelles Erbe weitergegeben.
Sie waren für den Film «Gladbeck – Das Geiseldrama» bei Netflix verantwortlich. Die „Süddeutsche Zeitung“ lobte das gesammelte Bildmaterial, im Netz gab es deutlich kritischere Stimmen. Welche Reaktionen haben Sie erfahren?
Ich bin selten im Netz, weil mir die Zeit fehlt, und habe die kritischen Stimmen nicht entdeckt, weshalb ich nicht wirklich darauf antworten kann, wofür ich mich entschuldige. Wir sind aber für alle wichtigen Fernsehpreise in Deutschland mindestens nominiert worden, was mich sehr stolz macht, und die Artikel, die ich gelesen habe, waren meistens positiv. In der Regel konnten die Zuschauer das Anliegen unseres Films dechiffrieren.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
«Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt» ist in der arte- und ARD-Mediathek verfügbar. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg strahlt die Dokumentation am Samstag, den 28. Januar, um 20.15 Uhr aus.