Don’t Call it Dokumentation

Mit dem Aufstieg der Streamingdienste kam ein neues Genre auf dem Markt, das eigentlich eine Lüge ist: die sogenannten Doku-Reihen.

Millionen Menschen auf der Welt haben im November und Dezember 2022 die insgesamt sechsteilige Doku-Reihe «Harry & Meghan» gesehen, in der Prinz Harry, der Duke of Sussex, und seine Ehefrau, die Schauspielerin Meghan aus dem Nähkästchen plauderten. Doch die Sendung, in der auch Meghans Mutter Doria Ragland und ihre Nichte Ashleigh Hale auftauchten, ist ein Etikettenschwindel. Die Produktion von Archewell Productions (das Unternehmen von Harry und Meghan), Story Syndicate und Diamond Docs hat nichts mit der Realität zu tun.

These, Antithese und Fazit sind Bestandteile der klassischen Argumentationsstruktur. Harry und Meghan sind in die Vereinigten Staaten von Amerika geflüchtet, um dort mit dem englischen Königshaus und der Boulevardpresse nicht mehr leben müssen. Stattdessen produzieren sie aus Kalifornien zahlreiche Vorwürfe. Da ist es auch ein Problem, dass ihre eigene Produktionsfirma natürlich auch nicht die Antithese, also das britische Königshaus, zu Wort kommen lassen möchte. Es wäre ja wahnwitzig, wenn sich König Charles und Harrys Bruder Prinz William argumentativ äußern würden.

Darüber hinaus kommen auch keine wirklichen unabhängigen Experten in der Dokumentation zu Wort. Es gibt durchaus Experten des Hauses Windsor, die für Harry und seine Ehefrau Partei ergreifen, aber eben auch für König Charles. Eine entsprechende Einordnung findet allerdings in dieser überaus erfolgreichen Dokumentationsreihe von Netflix nicht statt. Wie auch bei anderen Reihen werden hier mit den Elementen des Reality-Fernsehens gespielt. In «Harry & Meghan» werden zahlreiche Privataufnahmen angefertigt, die das Paar von ihrer symphytischen Seite zeigen sollen. Für Netflix ist die Miniserie natürlich super, weil sie private Einblicke zeigt und einen Stoff liefert, worüber sich die Menschen unterhalten. Aber eine journalistische Arbeit ist das, was der Sohn des Königshauses abliefert, nicht. Das ist inzwischen so geskriptet, dass man wahrlich ein Wort wie „Dokumentation“ in diesem Zusammenhang nicht in den Mund nehmen sollte.

Ein ähnliches Beispiel liefert Peter Rossberg mit seiner Good Guys Entertainment GmbH ab. Der ehemalige Bild-Reporter und der Rapper Bushido haben ihr professionelles Verhältnis in gleich mehrere Produktionen umgesetzt. Unter anderem drehte man für Amazon eine sechsteilige Serie, in der Anis Ferchichi und seine Ehefrau Anna-Maria mehrere Stunden Vorwürfe gegen die Abou-Chaker-Familie lostreten. Doch diese halten sich raus, kaum andere involvierte Personen wollen sich vor der Kamera äußern. Der Film erschien bei Amazon zu einem denkbar unwürdigen Zeitpunkt: Noch bevor der Prozess gegen die Abou-Chakers, in denen Bushido als Nebenkläger auftritt, richtig in Fahrt kommt. Hinterher hätte man mit Sicherheit ein gutes journalistisches Stück daraus machen können, aber im November 2021 hätte die Dokumentation nicht bei Amazon veröffentlicht werden können. Die gesamte „Doku-Reihe“ ist äußerst dünn und erfordert einiges an Sitzfleisch.

Der Schauspieler und renommierte Regisseur Simon Verhoeven («Männerherzen») drehte gemeinsam mit dem Produzent Nepomuk V. Fischer «FC Bayern – Behind the Legend». Der Sechsteiler begleitet den deutschen Rekordmeister zwischen dem Champions-League-Sieg im Sommer 2020, beim UEFA Supercup 2020 und bei der Klub-Weltmeisterschaft in Doha. Manuel Neuer, Robert Lewandowski und Thomas Müller kommen zwar zu Wort, aber nicht kritisch. Es ist eben Werbefernsehen, das Amazon für Prime Video bestellt hat. Zwar erhalten die Zuschauer auch Einblicke in die internen Abläufe, doch wirklich brenzlig wird es nicht. In der letzten Folge sieht man, dass Julian Nagelsmann das Traineramt übernehmen würde, aber bei den Gesprächen durfte die Kamera nicht mit dabei sein. Fischer hat im Übrigen auch den Werbefilm «Apache bleibt gleich» gedreht, bei dem der Mannheimer Volkan Yaman portraitiert wird. Das Werk, das Ende September 2022 erschien, kam gerade auf einem auf einem Tiefflug seiner musikalischen Karriere raus und schob die geplante Tournee wieder ordentlich an. Amazon kennt sich aus mit unkritischen Reihen. Weiteres Beispiel gefällig? «Bild.Macht.Politik». Bei der Doku-Reihe über die Bild-Zeitung konnte Chefredakteur Julian Reichelt seine unfreundliche Art ebenfalls weglächen.

Die «Sportschau»-Reportagen vom Westdeutschen Rundfunk haben zwar nicht so große Stars vor der Kamera, geben aber einen guten Einblick in die Fußballwelt. Man kann durchaus in Formate wie «Kroos» (Regie: Manfred Oldenburg), «Schweinsteiger Memories – Von Anfang des Liegende» (Regie: Robert Bohrer») oder «All or Nothing: Arsenal» (Regie: Leo Fawkes und Tim Taggart) hineinschauen, doch diese Werke sollen uns eine Traumwelt präsentieren, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Es ist durchaus bewundernswert, dass alle Regisseure kommen, wenn ein Auftraggeber eine unkritische Dokumentation produzieren möchte. Es werden auch in Zukunft diese zahlreichen Dokumentationen erscheinen, aber man sollte bitte auf den Etikettenschwindel verzichten: Das ist Reality-TV und spielt damit in einer Liga wie «Die Geissens» und «Goodbye Deutschland! Die Auswanderer». Da geht es um Glamour und die schöne Welt im Fernen, wo auch nicht alles echt ist, also genau wie bei den Doku-Reihen.
13.03.2023 13:33 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/140742