«37 Sekunden» erzählt einem sexuellen Übergriff, der "ungefähr so lange gedauert hat"
Bettina Oberli drehte schon den schweizerischen Blockbuster «Die Herbstzeitlosen», jetzt thematisiert die einen sexuellen Übergriff in der Musikwelt.
Hallo Frau Oberli. Sie haben die Serie «37 Sekunden» gedreht, die am 4. August in der ARD-Mediathek startet und am 15. und 22. August im Ersten ausgestrahlt wird. Was wird in dieser kurzen Zeitspanne passieren?
Die Serie erzählt von einem sexuellen Übergriff, der ungefähr so lange gedauert hat. Die Konsequenzen dieses Ereignisses erschüttern die Beteiligten und ihr Umfeld bis in den tiefsten Kern. Das war das Spannende an dieser Arbeit: Weil im Serienformat mehr Erzählzeit zur Verfügung steht, konnten wir über eine Täter-Opfer-Geschichte hinausgehen und verschiedene Perspektiven der Familie und die Auswirkungen auf das Umfeld der beiden zentralen Figuren aufzeigen. So wurde es eine Geschichte, in der es schliesslich auch um die Frage geht, ob Familie immer und in jedem Fall zusammenhalten muss.
Nein heißt Nein! Warum muss die Gesellschaft über dieses Thema leider noch immer aufgeklärt werden?
Ich glaube, dass unsere Serie genau diese Frage behandelt und einen wichtigen Teil zur Diskussion um dieses Thema beitragen kann.
Sie arbeiten mit einem deutsch-internationalen Cast zusammen: Emily Cox («Last Kingdom»), Jens Albinus («Borgen»), Paula Kober (Sisi), Marie-Lou Sellem («Tár») oder Marc Benjamin («Sløborn»). Waren Sie am Casting-Prozess beteiligt?
Selbstverständlich. Die Besetzung der Figuren mit den passenden DarstellerInnen ist eine der Kernaufgaben der Regie in Zusammenarbeit mit der Casterin, in diesem Fall Dorothee Weyers. Es geht hier auch darum, dass die Figuren glaubwürdig eine Familie verkörpern, dass sie also eine Vertrautheit mitbringen. Deswegen haben wir viele Konstellations-Castings gemacht, um zu schauen, wer mit wem am besten zusammen passt.
Das Drehbuch von «37 Sekunden» stammt von Julia Penner und David Sandreuter. Haben Sie noch Änderungen am Skript vornehmen lassen? Oder haben Sie sich schon während des Schreibprozesses ausgetauscht?
Ich stiess erst ab einer bestimmten Fassung dazu, als die Figuren, die Erzählstruktur und die Geschichte mit ihrer Intention schon standen. Wir haben ab diesem Zeitpunkt eng zusammen gearbeitet, im Ping-Pong uns ausgetauscht, mit den DarstellerInnen gelesen und alles verfeinert. Da wir mit 48 Drehtagen enorm wenig Zeit zur Verfügung hatten, mussten die Bücher auch auf diesen Umstand hin angepasst werden. Zum Glück sind Julia & David sehr schnellschreibende Autoren, die dazu bereit waren, Änderungen vorzunehmen. Zum Beispiel längere Szenen zu schreiben, damit man wenig Motivwechsel hat, oder praktisch alle Autofahrten zu streichen, weil diese immer extrem zeitraubend sind.
Bei Ihrer Serie spielt auch Musik eine große Rolle. Paula Kober, Jens Albinus und Emily Cox haben den Soundtrack eingesungen. Ist so eine Verquickung zwischen Film und Musik schwierig? Oder übersteigt der Lohn den Aufwand um ein Vielfaches?
Es hat natürlich einen Mehraufwand bedeutet, aber das hat sich sehr gelohnt. Wir wollten nicht eine Geschichte in der Musikwelt erzählen und dann unauthentisch sein. Es war mir sehr wichtig, dass die Figuren das glaubwürdig verkörpern und eben selber Musik machen und singen. Sie mussten also üben wie verrückt. Paul Eisenach, der Komponist, hat dann mit seinem Team die SchauspielerInnen lange vor dem Dreh für Aufnahmen ins Studio geholt, damit er sieht, was ihre Stärken sind und entsprechend die Songs für sie komponiert. Diese haben sie beim Dreh live gesungen. Man muss ja glauben, dass Carsten wirklich sehr bekannt ist und viele Fans hat, und bei Leonie war wichtig, dass sie als grosses Nachwuchstalent rüberkommt, die richtig coole Musik macht.
Miniserien im Ersten laufen in der Regel suboptimal. Wurde das Format als Mediathek-Serie angedacht?
Ja, die Serie wurde für die Mediathek konzipiert. Dann wurde während dem Entwicklungsprozess entschieden, die Serie auch linear zu zeigen. Sowohl in der ARD wie auch bei unserem Partner, dem dänischen Sender DR.
Sie haben vor über 15 Jahren den gigantischen schweizerischen Hit «Die Herbstzeitlosen» gedreht. War das ein riesiger Impuls für Ihre Karriere?
Natürlich hat mir das viele Türen geöffnet, und ich konnte dadurch immer kontinuierlich arbeiten, meine eigenen Filme drehen, was ja enorm wichtig ist, wenn man dabei bleiben will. Es wurden mir auch viele Projekte angeboten wie zum Beispiel Tannöd, so dass ich auswählen konnte, was mich interessiert. Dass nun zusätzlich der Serienmarkt diesen riesigen Boom erlebt ist für mich als Kreative die Gelegenheit, andere Erzählformen auszuprobieren oder Stoffe zu behandeln, die es als Kinofilm schwieriger hätten.
Sie stammen aus der Schweizer Gemeinde Interlaken. Ist die Realisierung von Formaten dort schwieriger, weil man in der Schweiz gleich drei Sprachen spricht?
Es gibt zwei Seiten – einerseits ist der Markt für schweizerdeutsche Filme extrem klein, und die Filme, die wir in unserem sehr speziellen Dialekt drehen im Ausland und schon im Rest der Schweiz einen schweren Stand haben. Wobei gerade die Herbstzeitlosen gezeigt hat, dass auch so ein Film international grossen Erfolg haben kann. Für die Welschen und Tessiner ist es einfacher, weil sie französisch- oder italienischsprachige Filme produzieren, die dann automatisch Zugang zu einem viel grösseren Markt haben. Andererseits ist es ein Glück, dass wir vielsprachig aufwachsen – ich habe einen Kinofilm in Französisch gedreht und letztes Jahr in Brüssel eine Serie, bei der mir mein gutes Französisch sehr geholfen hat.
Vor der Pandemie haben Sie «Wanda, mein Wunder» gedreht, der dann bei der Online-Version des Tribeca Film Festivals gezeigt wurde. Wurde der Spielfilm von Corona ausgebremst?
Ja, die Lancierung des Films fiel genau in diese Zeit. Der Kinostart wurde mehrmals verschoben. Der Film wurde weltweit an viele Festivals eingeladen und dann halt oft nur online gezeigt. Das war schade, weil ich meine Filme gerne begleite und mich über den Austausch mit dem Publikum freue. Andererseits hatte ich dann auch mehr Zeit, neue Projekte zu entwickeln, die jetzt alle schon fortgeschritten oder in der Finanzierung sind.
Für den internationalen Streamingdienst Starz/Lionsgate drehen Sie «Nachts im Paradies». Können Sie schon verraten, wovon der Stoff handelt?
Es ist eine Geschichte, die in einer undefinierten Zukunft spielt, fast nur nachts und in einer dystopischen Welt. Es ist die Verfilmung von Frank Schmolkes Graphic Novel und dementsprechend visuell sehr prägnant, schnell erzählt und laut und vibrierend. Jürgen Vogel, Lea Drinda, Leonard Scheicher und Birgit Minichmayr spielen inmitten eines schillernden Casts die Hauptrollen. Es geht um die Suche nach dem Ausweg aus der Hölle des Spätkapitalismus und auch wieder um Familie – wie in allen meinen Filmen.
Vielen Dank für Ihre Zeit!