Sat.1 versucht mit einer neuen Telenovela am Vorabend endlich auf einen grünen Zweig zu kommen. Inhaltlich hat die Produktionsfirma filmpool vieles richtig gemacht.
Man kennt solche Eröffnungsszenen auf Filmen oder anderen Serien. Wie in dem Reboot «90210»: Dr. Sarah König (Caroline Frier) und ihre Tochter Leo (Katharina Hirschberg) fahren mit einem Kompaktwagen durch die bayerischen Orte südlich von München. Schliersee statt Los Angeles, das sieht nicht nur besser aus, das ist auch heutzutage in Mode. Eröffnet wird die Serie nicht nur mit tollen Bildern vom Voralpenland, sondern auch von einer Voice-Over von Caroline Frier. Das hätte man nicht unbedingt gebraucht, denn in den ersten fünf Folgen, die vorlagen, wird das Thema noch häufig genug angesprochen.
Die Notfallchirurgin aus Berlin hatte nämlich – das erfährt man in einer der weiteren Folgen abseits des Pilotfilms – einen schweren Autounfall. Nach einer 48-Stunden-Schicht stieg sie in ihren Wagen und ein Sekundenschlaf führte zu einem schrecklichen Schaden. Deshalb entschied man sich für einen Urlaub auf dem Land und wählte das Dörfchen Wiesenkirchen. Phonetisch macht es auch durchaus Sinn, die Gemeinde Schliersee umzubenennen. Friers Alter Ego betreibt Eskapismus von ihrem Berufsleben, Sat.1 möchte mit dieser Realitätsflucht punkten. Denn: Mit Serien wie «Die Rosenheim-Cops», «Der Bergdoktor» und «Die Bergretter» erreicht das ZDF fantastische Zuschauerzahlen, von denen Sat.1 einen Teil haben möchte.
Am Schliersee liegt die Alte Post, in der Sarah König und ihre Tochter Leo zunächst unterkommen. Das sieht schon alles aus, wie in einem Hochglanzkatalog. Manche Szenen machen Sinn, andere sind dann zum Teil etwas dämlich: Eine Autofahrt von Berlin nach München als „Gurkerrei“ zu bezeichnen. Man fährt eigentlich nur Autobahn. Das Smartphone der Tochter muss aufgeladen werden, weil man kein Ladekabel dabei hat? Okay. Man verschläft eines morgens, weil das Smartphone der Tochter wichtiger ist und kein Wecker ertönt? In der Alten Post ist nicht nur ein Hotel, sondern ein Restaurant. Bianca (Rosetta Pedone) führt gemeinsam mit ihrem Vater Donato (Antonio Putignano) und ihrem Bruder Emilio (Gioele Viola) das Anwesen. In der dritten Folge, sobald die Geschichte um Sarah König, ihrer Tochter und den Landarzt etwas geklärt ist, bekommt auch die italienische Familie zum Glück mehr Screentime. Vater Donato möchte weiterhin nur gut bürgerliche Küche anbieten, weshalb der Eventabend gestrichen wird. Der Streit wird nicht beendet, es bleibt alles unausgesprochen.
In den ersten zwei Folgen sind sowieso Sarah König, Leo und der Landarzt Fabian wichtiger. Nach einem Ankommen in Dorf hilft sie bei einer Hausgeburt eines Kalbes. Leider sieht man nicht wirklich, wie dort zugepackt wird, erst nach der Hilfe ist die Kamera wieder dabei. Stattdessen lernt der Zuschauer in der Zwischenzeit Leo, den Sohn von Rettungssanitäter Max (Alexander Koll), kennen. Im Verlaufe der ersten zwei Folgen knallen vor allem Sarah und Fabians Vater Dr. Georg Kroiß (Christian Hoenig) mehrfach aneinander. Es kommt bereits in der ersten Folge zum Showdown: Kroiß erleidet einen Herzinfarkt und Dr. König muss bis zum Äußersten Gehen: Ein Luftröhrenschnitt. Natürlich sieht man auch hier nichts. In den weiteren Folgen wird das Geheimnis auf den Tisch gepackt: Leo ist die Tochter von Fabian, doch Sarah traut es sich nicht zu offenbaren. Als dann noch Fabians Frau Dr. Alexandra Seeberger-Kroiß (Katrin Anne Heß) aus München auftaucht, ist das Drama perfekt. Sie möchte unbedingt ein Kind, Fabian ist genervt, was er natürlich auch gegenüber Sarah sagt. Ihm jetzt das Geheimnis mit seiner leiblichen Tochter erzählen? Das wäre vermutlich zu früh und erst in der zweiten Sendewoche könnte dieses Geheimnis offenbar werden.
Jedoch muss man auch sagen, dass einige Figuren oft echt schwer von Begriff sind. Sarah verschwindet aus Bayern nach einer Affäre und die beiden hatten scheinbar ungeschützten Geschlechtsverkehr? Wie blind kann Fabian sein? Der Groschen sollte doch noch fallen. Für Fabians Vater, zeitweise der einzige Antagonist der Serie, ist Sarah ein Dorn im Auge. Wobei der Grund überhaupt nicht ersichtlich ist: Schließlich ist Fabian mit seiner jetzigen Frau in einer Beziehungspause und würde vermutlich wegen Sarah in Wiesenkirchen bleiben. Auch mit seiner Tochter könnte er wohl sesshafter werden, als in München. Als Alexandra allerdings in der Serie auftaucht, bekommt die Serie neuen Biss.
Bislang muss man auch sagen, hat «Die Landarztpraxis» nette Geschichten und schöne Bilder, aber keine wirklichen Gegenspieler. Alles klappt, alles ist wunderbar. Da fragt man sich schon, warum man weiterhin einschalten soll. Jeder Fernsehmacher weiß, dass solche Formate nicht ohne Bösewichte funktionieren. Selbst Fabians Vater Georg hat den verständlichen Wunsch, dass Fabian die Praxis übernimmt. Noch Ehefrau Alexandra möchte die Beziehung retten. Alles legitime Wünsche, die beiden Treffen sich auch regelmäßig um ihre Pläne vorzustellen. Aber so wirklich böse wirkt das nicht.
Unterm Strich präsentiert filmpool eine sehr nette tägliche Serie, die wirklich mit zum Teil guten Dialogen überzeugen kann. Manche Aufnahmen wirken dann wieder sehr hölzern. Die Bilder, die uns die Produktionsfirma vom Schliersee abliefert, sehen alle hollywoodmäßig schön aus. Die Berge im Hintergrund machen etwas her, die Tiefe der Berge könnte man schon mit Formaten wie «Yellowstone» vergleichen. Auch die Medizin-Geschichten können sich durchaus sehen lassen, wenn eine Frau verwirrt wirkt, weil sie einfach viel zu viel Wasser trinkt und deshalb einen Mangel an Natrium im Blut kommt.
Ein weiterer Pluspunkt: Sämtliche Geräte, die in der Serie auftauchen, sind echt. Filmpool legt sehr viel Wert auf Details, da stimmen die Nummernschilder der Autos, Krankheiten ergeben Sinn. Tatsächlich mangelt es aber an Statisten in der Serie, der Ort Weisenkirchen ist einfach stets überschaubar. Es gibt zwar auch mal eine Gruppe von Gästen, aber ansonsten sind dort recht wenig Personen anzutreffen.
«Die Landarztpraxis» ist das beste Produkt, das Sat.1 seit Jahren vom Stapel gelassen hat. Vielleicht liegt das auch einfach daran, dass der Sender in eine fiktionale Produktion weniger hereinreden kann als in kleineren Showprojekten. Hier konnte sich eine Produktionsfirma richtig austoben – und das auf einem technisch sehr hohen Niveau. Nur die fehlenden Bösewichter können ein Problem werden.
«Die Landarztpraxis» wird Montag bis Freitag um 19.00 Uhr bei Sat.1 ausgestrahlt. Fünf Folgen sind montags bei Joyn zu sehen.