Axel Fuhrmann: ‚Der Überfall Putins auf die Ukraine hat Finlandia wieder aktuell gemacht‘

Am späten Sonntagabend schaut arte auf Jean Sibelius "Finlandia". Im Gespräch mit Quotenmeter verrät Filmemacher Fuhrmann, warum er sich auf Sibelius konzentrierte.

Herr Fuhrmann, was reizt sie an klassischer Musik?
Ihre Vielfalt, ihre gesellschaftliche Relevanz zu allen Zeiten und ihre Verbundenheit mit historischen Entwicklungen und Zusammenhängen.

Was hat Sie dazu inspiriert, eine Dokumentation über Jean Sibelius und sein Werk „Finlandia“ zu produzieren? Und vor allem: Wie überzeugt man NDR und arte, diese Produktion zu bezahlen?
Die entstandene neue Bedrohung durch Russland nach dem Überfall Putins auf die Ukraine hat Finlandia und speziell die darin enthaltene Hymne wieder aktuell gemacht. Da das Stück 1899 von Sibelius als direkte Reaktion auf die damalige Russische Unterdrückung und für die Freiheitsbewegung komponiert wurde, besteht ein direkter Bezug zur Zeitgeschichte. Das war für NDR-Arte ausschlaggebend, den Film auf den Weg zu bringen.

Können Sie uns etwas über die Entstehungsphase der Dokumentation erzählen? Welche Herausforderungen haben Sie dabei erlebt?
Mit meiner Idee die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes in die Biografie von Sibelius und in die Geschichte des finnischen Kampfes um Unabhängigkeit und Freiheit einzubinden, habe ich bei allen Institutionen, der Sibelius-Familie und allen Protagonisten des Films offene Türen vorgefunden.

Wie haben Sie die Originalschauplätze in Finnland ausgewählt, und warum waren diese für die Erzählung der Geschichte von „Finlandia“ wichtig?
Berlin, wo Sibelius studierte und die Arbeit an seiner Achten begann, Paris, wo er international bekannt wurde, Ainola wo er bis zu senem Tod lebte, Helsinki wo er alle seine Werke uraufführte, waren gesetzt. Im Schwedischen Theater Helsinki wurde Finlandia uraufgeführt, im Hotel Kämp trafen sich Sibelius und seine Künstlerfreunde, um über die finnische Kunst und identität in Malerei, Musik und Dichtung zu diskutieren, im Militärmuseum gehen Mitglieder der Garde Militärkapelle der Bedeutung von Finlandia auf den Grund und im alten Studentenhaus dirigierte Sibelius das Orchester der Universität. Entlang dieser Orte erzählen wir unsere Geschichte.

Was war Ihre wichtigste Quelle oder Ihr wichtigster Einfluss bei der Erforschung von Sibelius' Leben und Werk?
Die aktuellen Bücher „Sibelius" von Volker Tarnow und „Jean Sibelius und seine Zeit“ von Tomi Mäkelä waren ebenso wichtige Lektüren wie die ältere Biografie von Erik Werner Tawaststjerna.

Wie sind Sie bei der Auswahl der Interviewpartner und Experten für die Dokumentation vorgegangen?
Angehörige, Biografen, Dirigenten, Orchestermusiker, Militärmusiker, Komponisten, Historiker und Politker entwerfen einen multiperspektivischen Blick auf Sibelius und die Komposition, deren Wirkung und Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart. Die Enkel von Sibelius liefern einen emotionalen Zugang zum Wesen des Menschen, Familienvaters und Großvaters. Der Biograf Tomi Mäkelä entfaltet das biografisch historische Fundment der Story. Der Komponist Detlev Glanert beleuchtet Sibelius aus der Perspektive des Künstlers, die finnische Komponistin Lotta Wennäkoski aus finnischer Perspektive. Der amerikanisch-finnische Dirigent Aku Sorensen analysiert und dirigiert das Werk als künstlerischer Leiter des Universtitätsorchesters Helsinki, das Sibelius selbst zu Lebzeiten dirigierte. Die finnische Dirigentin Susanna Mälkki lebt in Paris und bildet eine gute inhaltliche Brücke zu der Pariser Weltausstellung 1900, wo Finlandia weltbekannt wurde. Der Präsident der Finnischen Republik Alexander Stubb vermittelt die politisch-historischen Zusammenhänge und ordnet Sibelius politisch ein.

Welche Rolle spielt „Finlandia“ in der finnischen Kultur und Geschichte, und wie wollten Sie diese Rolle in der Dokumentation darstellen?
Bis heute betrachten die Finnen den langsamen Teil von Finlandia als ihre heimliche Nationalhymne. Sie wird am Unabhängigkeitstag gesungen und erklingt zu wichtigen Staatsakten. Historisch gesehen hat Finlandia den Zündfunken für den finnischen Freiheitskampf geliefert und 1900 die Aufmerksamkeit der Welt auf Finnland und seine bis dahin unbekannte Kultur gelenkt. Immer wieder - bis heute - hat das Werk den Finnen Mut im Kampf um ihre Identität und Freiheit gegeben.

Können Sie näher darauf eingehen, wie „Finlandia“ als politische Hymne verwendet wurde und welche Auswirkungen dies auf Sibelius hatte?
Als „politische" Hymne wurde das Werk erst ab 1941 verwendet, als Veikko Antero Koskenniemi nach dem gewonnen Winterkrieg gegen Russland einen Text dazu geschrieben hatte. Sibelius erlaubte das, denn er selbst betrachtete sich als Repräsentant Finnlands, als Kulturbotschafter seines Landes und als Patriot.

Wie haben Sie die Balance gefunden zwischen Sibelius' künstlerischen Leistungen und den politischen Implikationen seines Werkes?
Das eine bedingt das andere. Sibelius beginnt seine Karriere als Komponist in einer Zeit der künstlerischen und kulturellen Identitätsfindung der Finnen und er erfindet gleichzeitig eine ganz eigene, unkopierbare aber nichtsdestotrotz international verstehbare Tonsprache. Mit seiner Musik wird Finnland 1900 bei der Weltausstellung in Paris weltbekannt und mit „Finlandia“ komponierte er gleichsam einen Spiegel der finnischen Seele. Politik und Musik kreuzen sich in Sibelius Schaffen mehrfach und auf vielfältige Weise. Der Film zeigt das aus verschiedenen Perspektiven.

Inwieweit hat Sibelius' Sympathie für das nationalsozialistische Deutschland und sein späteres Erkennen des Missbrauchs seiner Musik Ihre Darstellung seines Charakters beeinflusst?
Garnicht. Seinen Charakter hat es ja auch nicht verändert. Seine Werke „En Saga“ und "Finlandia“ gehörten schon nach 1933 im Reichsrundfunk zu den meistgespielten Werken der nordischen Länder. Sicher fühlte er sich geehrt als 1942 in Berlin eine Sibelius Gesellschaft gegründet wurde, aber deutschen Boden hat er nie betreten. Sicher hat er auch gesehen, wie sein Werk missbraucht wurde. Das hat ihn in eine tiefe Depression gestürzt. Aber charakterlich ist er sich immer treu geblieben und so habe ich es versucht im Film auch zu zeigen.

Wie haben Sie es geschafft, die emotionale und psychologische Tiefe von Sibelius' Leben und seiner Musik in der Dokumentation zu vermitteln?
Nicht ich sondern die Protagonisten des Films schaffen das, indem sie der Persönlichkeit von Sibelius aus verschiedenen Richtungen auf den Grund gehen. Ich selbst füge die Aussagen der Interviewpartner und die Musik im Film so zusammen, dass der Zuschauer selbst Leben und emotionale Tiefe der Musik mit- und nachempfinden kann.

Gab es besondere Momente oder Entdeckungen während der Dreharbeiten, die Ihre Perspektive auf Sibelius oder „Finlandia“ verändert haben?
Seine Enkelinder haben mir die Tür zum liebevollen und zugewandten Vater und Großvater Jean Sibelius geöffnet. Das hat mich sehr berührt und ich erkenne den Menschen in seiner Musik jetzt deutlicher und klarer.

Was hoffen Sie, dass die Zuschauer aus dieser Dokumentation über Sibelius, seine Musik und die finnische Geschichte mitnehmen?
Musik ist ein wesentlicher Bestandteil unserer kulturellen Identität und gleichzeitig ist sie international. Sie kann für Freiheit und Unabhängigkeit stehen, aber in der Hand menschenverachtender Ideologen allzu schnell zum politischen Propagandawerkzeug werden. Das zeigen die jüngsten Debatten über einen Popsong zu dem rechtsradikale AFD-Parolen skandiert werden.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

Die Erstausstrahlung «"Finlandia" - Sibelius' Hymne der Freiheit» findet am Sonntag, den 23. Juni 2024, um 23.50 Uhr in arte statt. Der Film ist ab Sonntag bis 20. September 2024 in der arte Mediathek abrufbar.
21.06.2024 12:10 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/152260