Matthias Lier: ‚Prinz ist meine rechte Hand, und boxt mich raus‘

Im neuen «Tatort» verkörpert Lier die Figur von Piet Sievert. Im Quotenmeter-Interview spricht er unter anderem über seine Figur, die eine moralisch verwerfliche Person verkörpert.

Wie würden Sie Piet Sievert beschreiben? Was macht ihn als Figur im «Tatort» besonders?
Ich habe Piet sofort wahrgenommen, als einen Menschen, der viel auf den Deckel bekommen hat, sich nach oben arbeiten musste, und jetzt, wo er es geschafft hat, auch von den Früchten des Paradieses kosten will. Er hat sich mit dem Callcenter sein eigenes kleines Reich, ein Paralleluniversum, geschaffen, in dem seine Regeln gelten.

Was hat Sie an der Rolle des Piet Sievert gereizt? Gibt es Eigenschaften, außer die sexuelle Belästigung, mit denen Sie sich identifizieren können?
Mich hat gereizt, wie dieser Sievert sich immer wieder nach oben kämpft, sich immer irgendwie im Recht fühlt, oder er es sich so hinbiegt, wie es für ihn passt, und zwar weil er es kann. Dabei hat er ein Selbstverständnis und eine Lockerheit entwickelt, dass sich einem die Haare zu Berge stellen, wenn man von „außen“ auf ihn schaut. Bei dem Blick nach „innen“ - da war ich sehr neugierig. Und klar kenne ich das aus meinem Leben aus ostdeutschem Elternhaus, mich nach oben zu arbeiten, über eine sehr lange Strecke, sich was aufzubauen. Dabei ertappe ich mich, wie ich denke: „sei großzügig“, der Mensch ist von dir abhängig. Das ist ein Gefühl, dass ich Sievert mitgegeben habe, nur auf eine etwas andere Art und Weise.

Herr Lier, können Sie uns verraten, wie man sich auf eine moralisch verwerfliche Figur im Vorfeld des Drehplans vorbereitet?
Ich habe erstmal recherchiert, was für ein hartes Business so ein Callcenter ist, wer sowas macht, usw. Dann war mir schonmal klar, wie die Hierarchie und der Ton da ist. Und dann kam recht schnell für mich die Einsamkeit der Figur als Motor heraus. D.h. dass es moralisch verwerflich ist, was die Figur tut, war mir erstmal gar nicht wichtig, weil die Figur ja in einem tollen Buch stattfindet, in dem das Thema Machtmissbrauch ja von allen Seiten beleuchtet wird. Daher hatte ich da keine innere Zensur und habe mich da hineinbegeben und rumexperimentiert. Ich habe die Vergewaltigung vollkommen ausgeblendet, und als wir die dann gedreht haben, war das für mich selbst wie ein Schreckmoment, nur hatte die Figur kein Rückfahrticket.

Wie verhält sich Ihre Figur gegenüber den beiden Ermittlerinnen Lena Odenthal und Johanna Stern?
Ich fand spannend, auszuprobieren, wie er den beiden jetzt noch versucht zu verkaufen, dass er ein Samariter ist, obwohl in ihm der Kessel gekocht hat. Das hatte was Absurdes, das mag ich bei solchen Figuren immer.

Piet Sievert arbeitet eng mit Patricia Prinz zusammen, einer ehrgeizigen Anwältin. Wie entwickelt sich diese Dynamik im Verlauf des Films?
Prinz ist meine rechte Hand, und boxt mich raus. Das ist wie eine Symbiose: Sievert hat mal wieder über die Stränge geschlagen, Prinz hat was zu tun, das ermutigt Sievert, das nächste Mal ein bisschen weiter zu gehen usw. Der aktuelle Case allerdings gerät etwas aus den Fugen, was für uns beide verhängnisvoll wird.

Gibt es spezielle Momente in der Handlung, die Piet Sievert stark prägen oder seine Rolle innerhalb der Geschichte verändern?
Es gibt einen starken Moment, ab dem sich Sievert plötzlich auf der anderen Seite der Gewalt wiederfindet: auf der des Ausgelieferten. Plötzlich ist er das Opfer, plötzlich hat er Angst um sein Leben. Ob er daraus lernt zeigt der «Tatort».

Welche Herausforderungen haben Sie beim Darstellen der Figur empfunden? War es schwer, in seine Gedankenwelt einzutauchen?
Ich mag es, mich mit den guten Seiten, eines „Bösen“ zu beschäftigen und mit den bösen Seiten eines „Guten“. Das hilft mir, in die Gedankenwelt einzutauchen, und der unterbewusste Selbstbetrug war für mich eine Art gute, unschuldige Seite von Sievert, das konnte ich dann nachvollziehen. Die größte Herausforderung für mich war dann die Szene, als es ernsthaft zur Sache geht. Da funktionierte der Selbstbetrug nicht mehr, da kommt die schwarze Seite komplett hoch. Diese Gefühle sind mir sehr unangenehm. Das ging mir schon beim „Kindermörder Bartsch“ so, den ich am Resi gespielt habe. Da brauchte ich dann nach jeder Vorstellung erstmal eine Art emotionale Dusche.

Wie würden Sie die moralische Position von Piet Sievert im Film bewerten? Wo sehen Sie seine Grenzen?
Ich denke, Moral spielt in Sieverts Leben nur begrenzt eine Rolle und damit verkörpert er im Film den Gestus Mann, der sich schamlos über den Kleber unserer Gesellschaft hinwegsetzt, „weil er es kann“. Doch wenn dieser Mann plötzlich auf die Gunst anderer angewiesen ist, wird er so klein und jämmerlich, das hat mir richtig Spaß gemacht, da reinzugehen, weil es irgendwie wieder so absurd ist.

Inwiefern unterscheidet sich diese Rolle von anderen, die Sie bisher gespielt haben?
Eine Figur, die so viel durchmacht, und dann am Ende doch genau wieder da endet, wo sie am Anfang stand, das hatte ich bisher noch nicht, das hat einen großen Reiz für mich ausgemacht, das zu erforschen.

Worauf sind Sie bei Ihrer Darstellung von Piet Sievert am meisten stolz?
Stolz. Oh, darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Vielleicht der Moment, als er sich „in die Hose“ macht?

Danke für Ihre Zeit!

Der «Tatort» ist am Sonntag, den 27. Oktober 2024, um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
26.10.2024 12:27 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/155807