«A Real Pain»: Ein perfektes Destillat

Jesse Eisenberg hat ein grandioses Drehbuch verfasst und dieses zudem brillant inszeniert. Kieran Culkin und Jesse Eisenberg sind vollkommen zurecht für einen Oscar nominiert.

Zwei mitteljunge US-Amerikaner unternehmen einen Roadtrip durch Osteuropa. Dargestellt wird dieses Szenario in der 90-minütigen Komödie «A Real Pain». Was auf den ersten Blick wie eine schon häufig mehr schlecht als recht verfilmte Idee klingt, wird bei näherer Betrachtung zu einem grandiosen Stück über Schuld, Verantwortung, Erinnerung, Leid und Zusammenleben.

Die beiden US-Amerikaner sind die Cousins Benji (Kieran Culkin) und David Kaplan (Jesse Eisenberg) jüdischer Abstammung aus New York. Sie unternehmen ihren Roadtrip nicht allein, sondern schließen sich einer jüdischen Reisegruppe an, die quer durch Polen reist, um die Orte ihrer Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs zu sehen und daran zu erinnern. Angeleitet wird die Gruppe vom nicht-jüdischen britischen Tourguide James (Will Sharpe), der mit tiefgreifenden Fakten über die Stationen zu beeindrucken weiß und die Reisenden über ihre eigene Kultur aufklärt. Benji und David könnten unterschiedlicher kaum sein, was direkt in den ersten Szenen auffällt, als Benji in provokanter Lässigkeit davon spricht, dass er bei der Ankunft in Warschau Gras auf die beiden warten würde. David verständlicherweise ist beim Security-Check am New Yorker Flughafen sehr besorgt, was seinem Dauerzustand entspricht. Benji begründet seine Lockerheit mit einem seiner zahllosen flotten Sprüche: „Oh, als ob sie in Polen zwei Juden wegen ein bisschen Gras verhaften würden. Das ist ein gutes Bild für das polnische Volk.“

Die beiden Protagonisten, die unter ähnlichen Umständen aufwuchsen, haben sich in völlig verschiedene Richtungen entwickelt. David ist sehr ängstlich und zurückhaltend. Im Laufe des Films offenbart sich ein vielschichtiger Charakter, der seinen hohen Leidensdruck durch einen immensen Kontrollzwang zu unterbinden versucht. Das offene Hemd trägt er stets mit einem geschlossenen Knopf.

Benji wiederum trägt eine kurze rote Jogging-Schlabberhose und einen bunt gemusterten Hoodie. Sein Charakter zeichnet sich durch ein ähnlich lockeres Mundwerk aus. Kieran Culkin schafft es brillant die Zerrissenheit, die Benji innehat darzustellen. Einerseits ist er warmherzig, charmant und emphatisch, anderseits kann er auch brutal ehrlich sein, zwar ohne einen bösen Hintergedanken zu haben, aber immer wieder eine Schneise der Verwüstung zu hinterlassen. Deutlich wird dies in einer Szene, als die Gruppe im Zug unterwegs ist. Sie reisen in der ersten Klasse, weswegen Benji einen Gedanken aufwirft, der trotz aller Ironie auch die Tragweite dieser Reise umfasst. Wäre die Gruppe 80 Jahre früher unterwegs gewesen, gäbe es keine erste Klasse, sie wären in einem Viehzug gepfercht gewesen. Ihm geht es um ein gewisses Schuld-Gefühl. Aufgrund der heutigen Privilegiertheit habe man verlernt sich in den Schmerz der Vergangenheit hinzuversetzen, sodass das Leid letztlich in Vergessenheit zu geraten droht.

«A Real Pain» zeichnet sich nicht nur durch grandiose Dialoge aus, sondern auch durch eine besondere Einfachheit aus. Der Film ist spektakulär unspektakulär. Jesse Eisenberg überzeugt zwar als Schauspieler, aber noch mehr als Autor und Regisseur. Seine Bilder sind nicht überfrachtet, und sprechen deshalb so sehr für sich. Während die Gruppe durch Orte wie das Warschauer Ghetto, Lublin und das KZ Majdanek reist, werden an verschiedenen Stellen schlicht und einfach Bilder von den Stellen eingeblendet. Es gleicht einem dokumentarischen Ansatz, sodass der Zuschauer die Reise aus der Perspektive der Reisenden erfährt – wie auf einer Diashow. Durch den Film ziehen sich zudem die Klavierklänge Chopins. Das beruhigt den Film zusätzlich und lädt die Gedanken zum Schweifen ein, jedoch verliert man nie den Fokus. Dafür ist die Geschichte von David und Benji ohnehin zu fesselnd.

Denn neben dem Gedenken an ihre verstorbene Großmutter und der Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Vergangenheit greift der Film auch ein Thema auf, das in der Unterhaltungsindustrie und in der Gesellschaft im Allgemeinen viel zu selten behandelt wird: die psychische Gesundheit von Männern. Im Laufe der Handlung offenbaren sich die die Gründe für Davids zwiegespaltenes Verhältnis zu seinem Cousin. Letztlich schaffen es Benji und David sich wieder anzunähern. Gestrandet am Flughafen in New York gehen sie getrennte Wege, der Film endet, wie er begonnen hat. Es ist die letzte Metapher eines famosen 90-Minüters, der eine Geschichte über Holocaust-Erinnerung, die Vielschichtigkeit familiärer Beziehungen und mentale Gesundheit erzählt – ein nie enden wollender Prozess.

Fazit: «A Real Pain» bricht den Film auf das Wesentliche herunter und erzählt eine komplexe Geschichte in einer solchen radikalen Einfachheit, dass 90 Minuten vollkommen ausreichen. Ein perfektes Destillat.
12.02.2025 11:00 Uhr  •  Veit-Luca Roth Kurz-URL: qmde.de/158763