Thomas Müller ist das Gesicht des FC Bayern München. In seiner Amazon-Doku zeigt er sich noch ehrlicher als in Field-Interviews, was zwar Zündstoff birgt, aber keinen Flächenbrand entfacht.

Amazon beginnt den Film in Thomas Müllers Heimat Pähl in Oberbayern. Er steht auf einer Leiter, pflückt Äpfel. Starallüren scheinen ihm fremd. Ob er denn als hochbezahlter Fußballprofi überhaupt auf einer Leiter stehen darf? Stehen schon, nur runterfallen eben nicht. Ein Apfel landet neben dem Sack, es folgt ein weiterer typischer Müller-Spruch, als sich Mutter Klaudia beschwert, dass der Apfel nun Flecken bekäme: „Ich habe doch da extra das Moos angebaut“, so Thomas in gepflegtem bayerischem Dialekt.
Einblicke in das Mindset von Thomas Müller gibt es nur wenige Augenblicke später, als die Familie – Mutter Klaudia, Vater Gerhard und die beiden Söhne Thomas und Simon – sich durch eine Diastrecke klickt. Zu sehen ist ein junger Thomas der weinend dasitzt. Es war ein Wanderausflug und der Knabe wollte einen Apfel essen. Doch der Vater verbot es ihm: Erst am Gipfel wird gegessen. Der heutige Bayern-Spieler tickt ähnlich. Über Siege in der Bundesliga freut er sich nur deshalb, weil negative Presse ausbleiben wird. Freuen darf man sich erst mit der Schale in der Hand.
Tuchel- & Nagelsmann-Kritik als Zündstoff?
Dokumentationen über noch aktive Spieler, die zudem keinen Vereinswechsel in der jüngeren Vergangenheit hinter sich haben, sind eher selten. Umso erfrischender ist
«Thomas Müller – Einer wie keiner», denn erzählt wird nicht nur der Lebenslauf der FCB-Ikone. Das Kamerateam Filmemacher André Hörmann begleitet Müller durch die Saison 2023/24, an deren Ende das Karriere-Highlight Heim-EM wartet. Müller spricht offen über seine Situation mit dem damaligen Bayern-Trainer Thomas Tuchel und den Frust über (zu) kurze Einsatzzeiten. Das tut er nicht nur im Gespräch mit den Filmemachern, sondern auch in eigens aufgenommenen und zumindest spontan wirkenden Handyvideos, die in die Erzählung eingewoben werden.

Auch ist der Zuschauer bei Berater-Gesprächen dabei. Müller will zur Europameisterschaft 2024, ein Wechsel nach Saudi-Arabien ist aber offenbar auch im Gespräch. Bedenken angesichts einer angespannten Menschenrechts-Lage äußert Müller zwar nicht, lehnt den Wechsel in die sportlich unattraktive Liga aber ebenfalls ab. Die EM ist der Gipfel.
Die Kommentierungen von Thomas Müller, wären sie zu den jeweiligen Zeitpunkten öffentlich geworden, beinhalten sehr viel Zündstoff. Müller hielt Julian Nagelsmann, der im Herbst 2023 zum Bundestrainer berufen wurde, nicht für den richtigen Mann für den Job. Der Fußball unter dem Neu-Bundestrainer sei zu kompliziert für die Verbandsebene. Zudem war er überzeugt, dass er für Thomas Tuchel, damaliger FC-Bayern-Trainer, keine große Rolle spiele. Im modernen Fußball hört man solche Aussagen eigentlich nicht mehr. Der Zündstoff ist rund anderthalb Jahre später feucht geworden. Ein Flächenbrand droht nun kaum noch. Fußball als Tagesgeschäft.
Zuweilen bleibt die Doku an der Oberfläche hängen
Die knapp 90-minütige Dokumentation liefert neben den versprochenen Einblicken abseits des Spielfelds durchaus private Momente. Ein wiederkehrendes Element ist das gemeinsame Essen mit der Familie in Pähl. Thomas wird so häufig von Mutter und Vater bekocht, dass es im ersten Teil der Doku fast schon so wirkt, als würde er noch bei den Eltern wohnen. Bruder Simon nimmt im Leben von Thomas qua seines Berufs als Fan-Beauftragter des FC Bayern München ebenfalls eine durchaus präsente Rolle ein. Leider verpasst es «Einer wie keiner» tiefgründiger auf die Beziehung der beiden einzugehen. Wie groß der Druck des jüngeren Bruders gegenüber dem Weltmeister, WM-Torschützenkönigs, Champions-League-Siegers und zigfachen Deutschen Meisters ist, wird nur an der Oberfläche gestreift.
Überaus gelungen wurde ein Schlüsselmoment in Müllers Karriere inszeniert: das „Finale dahoam“. Bayern verlor trotz Müllers Führungstor das Champions-League-Finale 2012 gegen den FC Chelsea, was Müller auf einem Fanclub-Treffen als den intensivsten Moment seiner Karriere bezeichnete. Müller soll es Bastian Schweinsteiger zufolge gewesen sein, der am Tag nach dem Spiel eine ausführliche und aufbauende Nachricht an die Mannschaft schrieb. Der darauffolgende Triple-Gewinn mit dem FCB wurden dankenswerterweise gestreift. Amazon hatte sich ohnehin schon mit der Geschichte des Klubs ausführlich befasst.
Das Ende in Sicht

Müller ist bekannt dafür sein Herz in Field-Interviews auf der Zunge zu tragen. Dennoch sind die privaten Selfie-Aufnahmen, die meist nicht länger als ein paar Sekunden dauern, sehr beeindruckend. Darin berichtet er offen und ehrlich über seine Gefühlslage und zeigt sich darin auch über die Tragweite einzelner Spiele bewusst. Vor dem Achtelfinal-Rückspiel gegen Lazio Rom in der Champions League – das Hinspiel ging 0:1 verloren – geht es für ihn nicht nur ums Weiterkommen in diesem Wettbewerb, sondern um die Stimmungslage im ganzen Klub und vor allem um seine persönliche Situation, um noch auf den Zug zur Europameisterschaft aufzuspringen. „The pressure is on“, weiß Müller. Und er hält dem Druck stand.
Seltsam muten einige Re-Recordings an. Prime Video vermochte es teilweise nicht Original-Kommentare zu den gezeigten Spielszenen abzuspielen, sondern vertonte unter anderem mit Champions-League-Kommentator Jonas Friedrich neu. Auch Schiedsrichter-Pfiffe oder Pfosten-Treffer erhielten ein billiges, fast schon Komik-haft wirkendes Voice-over.
Das Schicksal wollte es, dass Thomas Müller die Saison 2023/24 ohne einen Titel abschloss, was angesichts der unglaublichen Erfolgsgeschichte dieses Fußballers einem Wunder gleicht. Und so musste der vordergründige Erfolgsfaden dieser Dokumentation angepasst werden. Die Teilnahme an der EM wurde zum Höhepunkt auserkoren, was Müller zwar immer wieder selbst betonte, aber eigentlich nicht der Maßstab für einen Erfolgsgaranten wie ihn sein dürfte. Die Macher haben aber ein differenziertes Bild von Thomas Müller entworfen. Einem, dem der Erfolg nicht einfach nur zugeflogen ist, sondern der dafür auch hart arbeiten musste. Misserfolge und Rückschläge machen einen überproportional großen Anteil der Doku aus. Und so hatte Mutter Klaudia zu Beginn dann doch nicht recht, als sie behauptete, dass sie ihren Sohn immer mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen müsse. Thomas weiß, dass er ohne seine Mitspieler nicht dort angekommen wäre, wo er jetzt ist. Und so schärft Pep Guardiola einen Punkt heraus, der so unscheinbar wie treffend das Spiel von Thomas Müller beschreibt: Nach Toren jubelt er nie für sich, sondern umarmt immer seine Teamkollegen. Müller weiß, wo er herkommt und was er tun muss, um seinen Apfel am Gipfel zu genießen. Eines bleibt die Doku aber doch schuldig: Wie es mit Thomas Müller weitergeht.
«Thomas Müller – Einer wie keiner» ab sofort auf Prime Video verfügbar.