«The Gorge» – solider Actionhorror mit bittersüßer Romanze
Zwei Scharfschützen, ein Mann und eine Frau, schieben Dienst auf verschiedenen Seiten einer Schlucht, die auf keiner Karte vermerkt ist. Ihr Auftrag: Nichts darf aus der in einem ewigen Nebel liegenden Schlucht hinausgelangen. Und sie dürfen keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Eigentlich …
«The Gorge»
USA 2025 / Originaltitel: The Gorge / Regie: Scott Derrickson / Drehbuch: Zach Dean / Musik: Trent Reznor, Atticus Ross / Produktion: C. Robert Cargill, Sherryl Clark, Zach Dean, Scott Derrickson, David Ellison, Dana Goldberg, Gregory Goodman, Don Granger, Adam Kolbrenner / Kamera: Dan Laustsen / Schnitt: Frédéric Thoraval / Maske: Sally Alcott, Nicola Buck / Actionchoreografie: Laurent Demianoff / Besetzung: Miles Teller (Levi), Anya Taylor-Joy (Drasa), Sigourney Weaver (Bartholomew), Sope Dirisu (J.D.), William Houston (Erikas), Samantha Coughlan (Janet), Alessandro Garcia (Ruben).
Scott Derrickson ist ein Regisseur, der mit großen und kleinen Budgets Produzenten stets sehr glücklich macht. Sein 3 Mio. teurer Horrorthriller «Sinister» hat 190 Mio. eingespielt. Aber auch seine Marvel-Produktion «Doctor Strange» hat trotz eines 200-Mio-Dollarbudgets keine roten Zahlen geschrieben. Weshalb sein vorletzter Thriller «The Black Phone» in Deutschland keinen Kinostart erhalten hat, lässt sich nur schwer beantworten, denn die Horrorstory über die Geister ermordeter Kinder, die einen Jungen vor ihrem Schicksal bewahren wollen, war in den USA ein echter Hit – und zwar in der Art, dass Derrickson bereits die Fortsetzung geschrieben hat und diese auch inszenieren wird. Zwischen diesen eher kleinen Horrorfilmproduktionen hat er es für AppleTV+ allerdings mit «The Gorge» ordentlich krachen lassen – ohne einfach nur die Konventionen des Genres brav abzuhaken.
Der große Graben
Auf der einen Seite ist also Levi (Miles Teller). Levi ist ein amerikanischer Scharfschütze. Wer er genau ist, woher er stammt – nichts davon wird wirklich offenbart. Levi ist ein Mann, der offenbar nur dann wirklich existieren kann, wenn er ein Fadenkreuz im Auge behält. Er war Soldat. Und er hat Jobs ausgeführt, die über das reguläre Soldatendasein hinausgingen. Vor allem aber ist er sichtbar ausgelaugt, was ihn ideal für einen Job macht, den ihm Bartholomew (Sigourney Weaver) anbietet. Bartholomew ist eine Frau ohne Hintergrund. Wahrscheinlich, so analysiert Levi, arbeitet sie für eine streng geheime Organisation. Darauf deutet die Tatsache hin, dass hohe Militärs vor ihr salutieren, sie aber für eine Soldatin zu eigensinnig wirkt. Seine Beobachtungsgabe gefällt Bartholomew. Beobachtungsgabe ist nämlich nötig für den Job, den sie ihm anbietet. Da gibt es eine Schlucht. In der herrscht 365 Tage im Jahr Nebel. Auf beiden Seiten der Schlucht steht jeweils ein Wachturm. Einer wird von den USA (der NATO?) besetzt – und das von nur einem Soldaten, der ein Jahr an diesem von der Welt vergessenen Ort sein Dasein verbringt. Sein einziger Kontakt ist einmal pro Monat ein kurzes Funkgespräch mit einem Operator. Das war es. Es gibt genug zu essen, es gibt fließendes Wasser, es ist warm – und sehr einsam. Es ist genau der richtige Ort für jemanden, der einfach einmal Abstand von der Welt braucht. Levis Job: Es darf nichts aus dem Nebel herauskommen. Was aber eh nie passiert. Ach ja: Und es ist ihm strengstens verboten, mit der Besetzung des Wachturms auf der anderen Seite der Schlucht Kontakt aufzunehmen.
Szenenwechsel: Drasa (Anya Taylor-Joy) ist eine Scharfschützin, die in einem Spannungsfeld zwischen staatlichen Interessen und kaltblütigem Mord agiert – um es vorsichtig auszudrücken. Sie ist in eine KGB-Familie hineingeboren worden. Ihre Mutter ist schon lange tot. Der einzige Mensch, dem sie vertraut, ist ihr Vater, der ihr offenbart, dass er sich am Valentinstag umbringen wird. Er ist unheilbar an Krebs erkrankt, und bevor ihn der Krebs auffressen wird, wird er selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Zuvor jedoch erweist er Drasa einen letzten Dienst und beschafft ihr eine Tätigkeit, in der sie für einige Zeit untertauchen kann. Ihr letzter Job hat Wellen geschlagen: Sie hat einen belarussischen Oligarchen erschossen. Der war zwar ein Drecksack, dem das Blut aus den Poren schoss, aber er hatte hochrangige Freunde.
So landet Drasa auf der anderen Seite der Schlucht. Weder Levi noch sie wissen, wo diese sich befindet. Auf dem Weg wurden sie in einen tiefen Schlaf versetzt. Anfangs verläuft ihr Dienst so, wie sie angenommen haben. Sie halten die Schlucht im Blick. Sonst bleiben sie allein. Bis zu dem Tag, an dem Levi eher zufällig feststellt, dass sein Gegenüber eine Frau ist. Drasa wiederum entgeht nicht, dass Levi sie gesehen hat. Und so steht sie eines Tages mit einem Schild auf ihrer Seite, mit dem sie Levi auffordert, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Was dann auch den eigentlichen Reiz des Films darstellt!
Unerwartete Romanze
Dass etwas in den Tiefen der Schlucht lauert... Bitte, das zu verraten ist nun wahrlich kein Spoiler. Natürlich ist dort etwas. AppleTV+ gibt kaum ein Millionen-Budget aus, damit wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, ein Kammerspiel zu sehen bekommen. Obwohl «The Gorge» tatsächlich über weite Strecken hinweg genau das ist. Und das ist eine Kunst für sich, denn Levi und Drasa sind so weit voneinander entfernt, dass sie nicht einmal direkt miteinander sprechen können. Die Botschaften, die sie einander hinterlassen, sind nur mit dem Fernglas zu entziffern, und doch entsteht eine Verbindung zwischen ihnen, die sich zunehmend verdichtet. Scott Derrickson schafft es, diese Distanz zu überbrücken, indem er das Gefühl vermittelt, dass die beiden auf einer Bühne miteinander an einem Tisch agieren. Sie sitzen zwar auf gegenüberliegenden Seiten, getrennt durch Raum und Umstände, doch je länger sie in dieser Situation verharren, desto mehr scheinen sie sich einander anzunähern, als säßen sie nebeneinander.
Das alles funktioniert natürlich nur, da Miles Teller und Anya Taylor-Joy wirklich den Raum erhalten, ihre Figuren ausspielen zu können. Statt auf ein Feuerwerk der Effekte zu setzen, lässt Derrickson die beiden spielen und erschafft dadurch eine der seltsamsten Liebesgeschichten, die der Stream seit langer Zeit gesehen hat. Aber genau diese unerwartete Romanze verleiht dem Film seinen Reiz. Zwei Menschen in der Einsamkeit – die einander über den tiefsten Graben hinweg nahekommen. Und das ist nicht einmal sinnbildlich so gemeint. Lockerer Humor und überraschende Tiefe wechseln einander ab und fast vergisst man, an was für einen Ort sich die beiden überhaupt befinden. Bis etwas aus der Schlucht kommt und die Frage in den Fokus rückt: Was befindet sich eigentlich unter dem Nebel?
Solide!
«The Gorge» ist weder ein Meisterwerk noch eine Revolution des Genres. Dennoch präsentiert sich Derricksons AppleTV+-Produktion als solide inszenierter Action-Horror-Film, der genau weiß, wann er mit voller Wucht auftrumpfen muss. Das Szenario in der mysteriösen Schlucht bietet nicht nur Schauwerte, sondern treibt auch die Handlung mit Bedacht voran, ohne unnötige Erklärungen preiszugeben (weitere Ausführungen sollen hier ausgespart werden, um nicht in Spoilergefahr zu geraten). Was diesen Film schließlich aus der Masse ähnlicher Produktionen hervorhebt, ist eine Regie, die mutig genug ist, sich von erwartbaren Erzählmustern zu lösen und der Geschichte Raum für seinen ganz eigenen Rhythmus zu geben – inklusiver einer unerwarteten Liebesgeschichte.
«The Gorge» ist seit 14. Februar 2025 bei AppleTV+ verfügbar.
28.04.2025 13:29 Uhr
• Christian Lukas
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