Lucio Mollica: ‚Die Idee zu dieser Serie entstand nach der Entdeckung eines Schatzes‘

Der Showrunner Mollica spricht bei Quotenmeter über die neue Doku-Serie «Vietnam. Geburt einer Nation», die auch für zahlreiche Nachfahren geschaffen wurde. Looksfilm stieß vor einigen Jahren auf einen riesigen Schatz von Aufnahmen, die noch keiner kannte.

Die Doku «Vietnam. Geburt einer Nation» beginnt 1920 unter französischer Kolonialherrschaft und endet in der Gegenwart. Warum war es Ihnen wichtig, die Geschichte Vietnams in dieser epischen Tiefe zu erzählen?
Die meisten bisherigen Filme über Vietnam konzentrieren sich auf den Krieg und insbesondere auf die amerikanische Beteiligung daran. Mit dieser Serie wollten wir eine andere, größere Geschichte erzählen: die eines Volkes, das unabhängig sein wollte und in einen Krieg verwickelt wurde, der mehr als 30 Jahre dauerte und dessen Spuren bis heute verbleiben. Nur wenn wir die Erfahrungen des vietnamesischen Volkes durch das 20. Jahrhundert nachvollziehen, können wir die Ursachen des Krieges und seine Auswirkungen auf die vietnamesische Gesellschaft wirklich verstehen.

Welche neuen Quellen oder Archivmaterialien konnten Sie für diese Doku erschließen – besonders aus vietnamesischer Sicht?
Die Idee zu dieser Serie entstand nach der Entdeckung eines Schatzes, den zuvor nur wenige gesehen hatten. Dieser Schatz bestand aus Hunderten von Filmen und Wochenschauen, die seit 1945 in Vietnam produziert und in Hanoi aufbewahrt wurden und im Ausland kaum oder gar nicht verbreitet wurden. Wir von LOOKSfilm sind immer daran interessiert, Geschichte aus neuen Perspektiven zu zeigen, und dies gab uns die Möglichkeit, Vietnam mit den Augen seiner Menschen zu betrachten. Natürlich war Vietnam viele Jahren geteilt, und es war interessant zu sehen, wie die verschiedenen Narrative - die des kommunistischen Nordvietnams und die von Südvietnam - sowohl in der Propaganda als auch auf dem Schlachtfeld aufeinanderprallten. Es war ein immenser Aufwand, dieses Material zu sichten, von dem ein Großteil für die Serie restauriert und digitalisiert wurde. Wir haben fast jede Aufnahme datiert und verortet, Personen identifiziert und damit auch die Recherche unserer Protagonisten angestoßen.

Ihre Reihe erzählt nicht nur die politische Geschichte Vietnams, sondern auch sehr persönliche Geschichten. Wie sind Sie an die Auswahl der Zeitzeugen herangegangen?
Wir wollten, dass diese Serie intim und emotional ist, und deshalb haben wir uns auf die individuellen Geschichten unserer Protagonist:innen konzentriert. Die Serie ist in gewisser Weise ein Mosaik aus persönlichen Erfahrungen, die - zusammengefügt - das große Bild einer nationalen Geschichte ergeben. Wir waren uns auch der Notwendigkeit bewusst, multiperspektivisch zu sein, und haben versucht, alle Seiten der Gesellschaft zu repräsentieren: Kommunisten und Antikommunisten, Soldaten und Kriegsopfer, Buddhisten und Katholiken, Reiche und Arme, Dichter, Schauspieler, Filmemacher und Schriftsteller. Natürlich wurde viel Arbeit darauf verwendet, die richtigen Personen zu finden - diejenigen mit den stärksten Geschichten und dem Willen, sie auf ehrliche und fesselnde Weise zu erzählen. In diesem Sinne haben wir viele persönliche Erinnerungen gelesen, Menschen aus dem Archivmaterial gefunden, 40 Interviews geführt und wahrscheinlich doppelt so viele Menschen bei der Recherche getroffen, um am Ende eine Auswahl von Protagonisten zu haben, die ausgeglichen Generationen, Perspektiven und Geschlechter repräsentiert.

Der Vietnamkrieg wurde oft aus westlicher Perspektive erzählt. Inwiefern setzt Ihre Doku dem eine vietnamesische Erzählung entgegen?
Die meisten der in den letzten Jahren produzierten Spiel- und Dokumentarfilme befassten sich in erster Linie mit den amerikanischen Erfahrungen in Vietnam und mit der Rolle dieses „Proxy war“ im Kontext des Kalten Krieges. Für die Vietnamesen ist das, was zwischen 1945 und 1975 geschah, eine Geschichte von Träumen, Ängsten und Trennungen, die jede Familie berührte - mit Brüdern, die gegeneinander kämpften, und Tausenden, die ihre Heimat verließen, entweder um zu kämpfen oder als Flüchtlinge. Viele unserer Protagonisten haben durch den Krieg Angehörige verloren oder schreckliche Gewalttaten, Agent Orange-Angriffe und Kämpfe erlebt. Ihre Erzählungen helfen uns, die Wirklichkeit des Krieges besser zu verstehen. Auf der anderen Seite gibt uns dieser Zugang auch die Möglichkeit, in die faszinierende vietnamesische Kultur einzutauchen, über die wir so wenig wissen.

Gerade die Schlacht von Điện Biên Phủ gilt als Wendepunkt im Kampf um die Unabhängigkeit. Was hat Sie an diesem Kapitel besonders beeindruckt oder überrascht?
Es ist eine bekannte Schlacht, die viele Menschen auf der ganzen Welt während ihres Kampfes um Unabhängigkeit beeinflusst hat. Als ich unseren Zeitzeug:innen zuhörte, hat mich beeindruckt, wie die Menschen überzeugt wurden, sich dem Kampf gegen die Franzosen anzuschließen und enorme Mühen auf sich zu nehmen, um Material an die Front zu bringen. Sie erzählten uns auch kleine Details, zum Beispiel, dass in der Armee Sänger:innen rekrutiert wurden, um die Verwundeten zu trösten, weil es keine Schmerzmittel gab, oder dass die Soldaten nach monatelangem Kampf von „Onkel Ho“ mit einer Medaille und einer Fleischmahlzeit für ihren Sieg belohnt wurden.

Wie schwierig war es, mit ehemaligen Guerillakämpfern, Kollaborateurn oder Exilanten zu sprechen – und wie offen waren diese Personen?
Es war schwierig, das Vertrauen dieser Menschen - entweder aus der vietnamesischen Diaspora oder in Vietnam lebend - zu gewinnen und sie davon zu überzeugen, in einem Film aufzutreten, in dem alle Perspektiven vertreten werden. Einige hatten Angst, andere waren in der Vergangenheit von ausländischen Medien enttäuscht worden. Glücklicherweise hatten wir Mitarbeiter, die uns halfen, die Empfindlichkeiten zu verstehen und die perfekten Zeitzeugen für dieses Projekt zu finden. Letztendlich sind wir sehr stolz auf unsere Protagonisten. Alle Interviewpartner teilten den tiefen Wunsch, ihre Geschichten an die nächsten Generationen weiterzugeben und sich öffentlich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Für sie war es möglicherweise die letzte Chance, ihre Wunden zu heilen und dafür zu sorgen, dass ihre Geschichten nicht vergessen werden.

«Vietnam. Geburt einer Nation» spricht multiperspektivisch über Spaltung, Trauma und Wiedervereinigung. Was kann Europa aus der vietnamesischen Geschichte lernen?
Es gibt viele Parallelen zur europäischen Geschichte - zum Beispiel zu Deutschland, das ebenfalls durch den Kalten Krieg gespalten wurde, oder zu den osteuropäischen Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Sozialismus annehmen mussten. Aber die Geschichte Vietnams ist auch voller Parallelen zur Gegenwart: von den Konflikten in der Ukraine oder in Afghanistan bis zu den Schicksalen der „Boatpeople“, die denen der Migranten im Mittelmeer so ähnlich sind. Der Blick auf die Ereignisse in Vietnam hat mich gelehrt, wie naiv es ist, in einem Krieg Partei zu ergreifen, ohne wirklich zu wissen, was auf dem Spiel steht. In Europa wie in Amerika wurde der Krieg in Vietnam aufgrund der Propaganda - entweder pro-kommunistisch oder pro-amerikanisch - oft missverstanden, und erst wenn man den Vietnamesen zuhört, beginnt man zu verstehen, wie komplex die Dinge waren und wie schwierig es ist, zu entscheiden, welche Seite die „richtige“ war.

Was war für Sie persönlich der emotionalste Moment in der Produktion oder beim Schnitt der Doku-Reihe?
Die Begegnung mit den Zeitzeugen:innen. Sie haben uns an ihren intimsten Erinnerungen teilhaben lassen und uns oft zu Tränen gerührt. Aber sie brachten uns auch zum Lachen und sangen manchmal sogar für uns. Von ihrer Resilienz und inneren Stärke kann man viel lernen. Ihr Humor und ihre Spiritualität halfen ihnen im Kampf und in den Gefängnissen, wenn sie ihre Verluste verarbeiten oder ihr Leben nach dem Krieg neugestalten mussten. Einer sagte mir: „Wenn man einen Krieg überlebt, hat man nie mehr Angst“. Die Zeit mit ihnen ist etwas, das mir für immer in Erinnerung bleiben wird.

In Deutschland leben viele Vietnamesen in zweiter oder dritter Generation. Hatten Sie auch diese Zielgruppe im Blick – und wenn ja, was möchten Sie ihnen mit dieser Doku vermitteln?
Ja, natürlich ist diese Serie auch für sie. Viele junge Männer und Frauen mit vietnamesischen Wurzeln, mit denen wir gesprochen haben, sind neugierig auf die vietnamesische Geschichte, finden es aber schwierig, mit ihren Eltern darüber sprechen, weil zu viel Schmerz mit der Vergangenheit verbunden ist. Hoffentlich finden sie in dieser Serie einige Antworten und die Inspiration, ihre eigenen Nachforschungen mit anderen Mitteln fortzusetzen.

Haben Sie während der Produktion auch Gespräche mit Vietnamesen in Deutschland geführt, z. B. mit ehemaligen Boatpeople oder Vertragsarbeiter aus der DDR-Zeit?
Ja, und ich hatte den Eindruck, dass die Trennung zwischen den beiden Gruppen irgendwie noch immer besteht, aber ihre Begegnungen - wie bei unserer Premiere in Berlin - sind voller Emotionen und mit dem Gefühl, Teil derselben Geschichte zu sein. Das ist vielversprechend für die Zukunft.

Wie sehen Sie die Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, globale Geschichte wie diese differenziert und verständlich aufzubereiten – auch für ein junges Publikum?
In der Welt, in der wir leben, kommt es immer häufiger zu polarisierenden Erzählungen, und es besteht die Tendenz, die Perspektiven zu verengen, anstatt sie zu öffnen. Daher ist es von grundlegender Bedeutung, dass die öffentlich-rechtlichen Medien die Geschichte multiperspektivisch darstellen und über die Grenzen hinausschauen. Ich hoffe, dass es in Zukunft immer besser gelingen wird, diese Inhalte auch einem jüngeren Publikum zugänglich zu machen. Ich bin der Meinung, dass in diesem Bereich noch mehr getan werden muss - sowohl für die Sender als auch für die Filmemacher.

Gibt es Pläne, diese Doku-Reihe auch in Vietnam oder auf internationalen Festivals zu zeigen – und wie waren bisherige Reaktionen aus der Community? Und wie kommt die Dokumentation zu Vietnamesen in Deutschland in dritter Generation?
Noch nicht, aber nach unserer Arte-Veröffentlichung werden wir auch daran arbeiten.

Danke für das Gespräch!

«Vietnam. Geburt einer Nation» ist am Dienstag, den 29. April, um 20.15 Uhr bei arte zu sehen. Der Film ist auch in der arte Mediathek abrufbar.
29.04.2025 11:56 Uhr  •  Fabian Riedner Kurz-URL: qmde.de/160786