«1 Stunde Wahnsinn»: Das Nachmittagsprogramm

Philipp Stendebach ging und sah in der 15.00 Uhr-Stunde Fernsehen. Künftig will er zu dieser Uhrzeit wieder Artikel verfassen.

Es ist 15.00 Uhr und ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Woche. Die perfekte Zeit also, um zu sehen, was in Deutschland so vor sich geht. Denn hauptsächlich werden um diese Uhrzeit Doku-Soaps, Doku-Soaps und ... Gerichtsshows gesendet. Ich erwarte eine Reise durch verschiedenste Gesellschaftsschichten und kann kaum abwarten, wie sich der «Natasha Zuraw»-Ersatz schlägt.

Eine Mutter (Susanne) hat Probleme mit ihrer Tochter (Clarissa). Aus «Mitten im Leben» gegriffen, bekommt man nun gezeigt, wie sie sich gegenseitig unheimlich wild ankreischen, weil die 18-jährige Tochter es vorzieht, im Bett herumzuliegen als sich um die Zukunft zu kümmern. Ein Glück, dass ich nicht in deren Leben stecke, wo sich die beiden das Leben gegenseitig zur Hölle machen. Die aufgetakelte Susanne agiert eher wie eine schlechte Schauspielerin des zeitgleich gesendeten Sat.1-Programms als eine besorgte Mutter. Dann freut sie sich auch noch, als Clarissa ihre Sachen packt und ausziehen will. Wenn dass das wahre Leben ist... aber nun gut. Wirklich spannend ist die Geschichte nicht anzusehen und ich hoffe, aus der Perspektivlosigkeit ausbrechen zu können. «U20» ist ja noch da.

Nein! Schnell merke ich, dass ich meine Ansprüche an das Nachmittagsprogramm etwas zurückschrauben muss. Denn hier geht es darum, dass ein junges Mädchen nicht zur Schule geht und lieber mit Freunden abhängt. Kennen wir das Problem nicht irgendwo her? Zum Glück gibt es hier aber noch ein anderes Problem: Sie ist Türkin und ihr Vater will nicht, dass sie sich mit Jungs trifft. In einem Interview sagt die 15-Jährige, sie sei schon mal mit einem Messer auf ihren Freund losgegangen, weil der fremd gegangen sei. Ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun und während ich darüber nachdenke, mit was für einem Gesicht man die Ehe betritt, wenn man keine Jungfrau mehr ist, schalte ich zu MTV, hoffend auf gute Musik.




Doch wie kann das passieren? Bei MTV läuft ja gar keine Musik mehr, man heißt ja nur zum Spaß Music Television. In «MTV: Made» (im Vergleich zu den anderen Programmen höllisch unterhaltsam) beweist ein Homosexueller, dass er genauso gut Baseball spielen kann wie die anderen der Mannschaft. Leider ist die Sendung schon vorbei und der Weg führt mich zu «Auf und davon» (ist es der Fluchtgedanke?). Ein Mutter-Tochter-Gespann versucht geschlagene zwei Minuten lang, den Koffer für die Reise zu zubekommen. Danach werden zwei Studenten gezeigt, die in Honolulu ein Auslandssemester absolvieren. Ich sehne mich währenddessen nach etwas Fiktionalem, nach etwas Spannendem...

Und ich lande bei der ARD. Ganz ehrlich: In den Genuss von «Sturm der Liebe» bin ich zuvor noch nie gekommen. Dort wird gerade der Frage nachgegangen, ob Herr Bergmeister Samia in seinen Armen erträgt. Ich werde richtig mitgerissen von den glanzvollen Leistungen der Darsteller. Als ich dann Caroline Beil in einer Rückblende zu Gesicht bekomme, kann ich es kaum glauben. Ich dachte, sie sitzt immer noch im Dschungel. Von dieser Begegnung wahrlich geschockt, führt mich mein Unterbewusstsein zurück zu RTL.

Aber was ist bloß mit Clarissa, der 18-jährigen Arbeitslosen passiert? Plötzlich steht sie in einer Arztpraxis und macht tatsächlich ein Praktikum! Gut, zu Hause wieder angekommen, wird sie von ihrer Mutter gleich drei Mal als Nachtgespenst beschimpft, aber man kann ja nicht alles haben... Das Mädchen, das laut ihrer Mutter Sabine schlimmer aussieht als Hund und Katz, bekommt letztendlich eine Absage von einer Tiernahrungskette (welche Ironie) und Sabine ist enttäuschter als Clarissa selbst.

Wie schon zu Beginn lande ich, meiner Intuition folgend, wieder bei «U20». Hier hat sich allerdings offensichtlich weniger geändert: Der kleine Bruder bringt die 15-Jährige aus einer Bar nach Hause, weil sie sich dort wieder heimlich mit Jungs getroffen hat. Nicht schon wieder das Thema... denke ich. Eine anspruchsvolle Unterhaltung, das wäre jetzt das Richtige. Beim WDR werde ich tatsächlich fündig. In «Planet Wissen» lerne ich, dass 20 Millionen Waffen in Deutschland im Umlauf sind und aus einem Sammler-Hobby schnell eine Gefahr für die Umgebung entstehen kann. Die Diskussionsteilnehmer sitzen an einem wunderschön mit Waffen bedecktem Tisch. Statt Blumenvase Handgranate, statt Kerzenständer Luftgewehr...

Und statt WDR VOX. Hier haben die beiden Honolulu-Studenten mittlerweile gelernt, dass Ananas nicht auf einem Baum, sondern in der Erde wachsen. Bevor sie auch noch merken, dass Erdnüsse nicht vom Himmel fallen, sondern in einem Busch gedeihen, schalte ich lieber zu VIVA. Hier beginnt gerade mit vorgezogenem Start «Are U Hot». Kann ja nicht schaden. Am Ende bin ich um die Erfahrung reicher, dass es das doch kann. Denn hier stehen ein paar Menschen hinter der Bühne wie die Hühner auf der Stange, um sich von einer (Experten?!)-Jury als „hot“ oder „not" bewerten zu lassen. Als Experten werden Alex („Schönsten Arsch der Welt“) Christensen, Manuel („verliebt in Berlin“) Cortez und Gülcan („Bauernhofprinzessin)“ Kamps vorgestellt.

Ein Kandidat behauptet, er habe mehr Haare auf der Brust als Sean Connery. Mit dieser Information bereichert, schalte ich den Fernseher aus und halte fest: Wenn dass Deutschland ist (wie ProSieben bei «U20» immer behauptet), ist es vielleicht doch besser, im Stil von «Auf und davon» abzuhauen.
21.08.2008 11:51 Uhr  •  Philipp Stendebach Kurz-URL: qmde.de/29266