Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 3: Ein aufgeblasenes Quiz voller Pannen und Wut.
Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des wahrscheinlich übertriebensten Quiz’, das es jemals auf einen deutschen Fernsehbildschirm geschafft hat.
«Die Chance Deines Lebens» wurde am 30. April 2000 in Sat.1 geboren und entstand damit nur wenige Monate nachdem die ersten Staffeln von «Wer wird Millionär?» auf ein unerwartet großes Interesse beim Publikum stießen. Dieser Überraschungserfolg sollte in den kommenden Jahren einen wahren Quiz-Boom im deutschen Fernsehen auslösen, der mit Varianten wie die
«Quiz Show»,
«Multi Millionär»,
«Einundzwanzig» ,
«Allein gegen alle»,
«Ca$h – Das eine Million Mark-Quiz»,
«Auge um Auge»,
«Das Millionenquiz» ,
«Der Schwächste fliegt»,
«Quizfire» und
«Greif an!» eine ganze Lawine an Nachfolgern hervorbrachte. Schon ganz am Anfang dieser Kopie-Welle stand dabei ein Format, das die entscheidenden Zutaten von «Wer wird Millionär?» offensichtlich völlig missverstand und daher genau die falschen Elemente versuchte zu verstärken. Sicherlich sorgte bei «Wer wird Millionär?» der Hauptgewinn von einer Million DM für eine anfängliche Aufmerksamkeit, den wirklichen Reiz zog die Sendung aber vielmehr aus ihrer Reduziertheit, dem simplen Regelwerk sowie dem Mut, den Kandidaten beim Raten und im Gespräch mit Moderator Günther Jauch viel Zeit zu lassen.
Genau auf diesen entscheidenden Minimalismus wollte man bei «Die Chance Deines Lebens» verzichten und stattdessen das Beantworten von Multiple-Choice-Fragen zu einem gigantischen Live-Spektakel aufblasen. Das war insofern verwunderlich, als dass sich mit Endemol die selbe Produktionsfirma für beide Versionen verantwortlich zeigte. Die wichtigste Änderung war in diesem Zuge die Verzehnfachung der Siegprämie auf nunmehr 10 Millionen Mark, womit man nicht nur den Konkurrenten RTL deutlich überbieten, sondern zugleich auch die weltweit höchste (lotterieunabhängige) Summe in einer Fernsehshow in Aussicht stellen konnte. Erreicht werden sollte diese durch die korrekte Beantwortung von lediglich sieben Fragen, denn durch jede richtige Lösung wurde an die Ausgangssumme von 1 DM jeweils eine Null herangehangen. Bis zu diesem Punkt war das Konzept noch simpel und überschaubar, aber das Spiel um die Nullen bildete lediglich das Finale der zweistündigen Ausgaben.
Vielmehr lag der Fokus auf dem komplizierten und unüberschaubaren Weg dorthin. Während in der Vorrunde von «Wer wird Millionär?» nur eine Handvoll potentielle Spieler um den Platz auf dem Stuhl kämpften, wuchs diese Anzahl beim Abklatsch auf 1.000 Menschen an. Diese wurden in einer großen Halle des neu errichteten Colloneum-Komplexes versammelt und bildeten zugleich das Saal-Publikum für die nachfolgenden Ereignisse. Sie alle hatten sich wie rund eine Million andere Interessenten zuvor über eine Hotline beworben und wurden anhand von Auswahlfragen ausgelost.
Um aus diesem Rudel an Quiz-Fans die Person auszuwählen, die am Ende um die Millionen zocken durfte, waren die Zuschauerränge in verschiedene Sektoren unterteilt und deren Zugehörige mit Abstimmungsgeräten ausgestattet. Anhand von Wissensfragen wurde der Kreis der sich noch im Rennen befindenden Mitspieler schrittweise reduziert. Es wurde also eine Frage gestellt und nur diejenige Hälfte des Studios, in der mehr richtige Antworten abgegeben wurden, durfte weitermachen. Jede Studiohälfte war anschließend in fünf Blöcke mit je 100 Menschen unterteilt, von denen nach einer neuen Frage wieder nur der Block mit den meisten korrekten Lösungen weiter kam. Jeder 100er-Block bestand wiederum aus fünf einzelnen Sektoren und so weiter. Am Ende wurden auf diese Weise die 20 Mitglieder des erfolgreichsten Sektors ausgesiebt, die dann auf die Bühne im Zentrum der Halle kamen und in schnellen Wissensduellen gegeneinander antreten mussten.
Es folgte der zähe Mittelteil, an dessen Ende nach fünf weiteren Runden endlich ein Finalist ausgewählt war. Dabei wechselte der Modus mehrfach: Mal wurden weitere Multiple-Choice-Aufgaben gestellt, mal wurden keine Lösungsmöglichkeiten vorgelegt und mal musste eine Auswahl an historischen Ereignissen in eine zeitlich korrekte Reihenfolge gebracht werden. Mal spielten die Kontrahenten für sich allein und mal im Team gegen eine andere Gruppe. Dazu kam, dass en Kontrahenten zwischendurch immer wieder Geld- oder Sachpreise (z.B. 10.000 DM oder ein Auto) dafür angeboten bekamen, vorab auszusteigen. Wann immer ein solches Angebot angenommen wurde, rückte jemand neues nach, der unter dem restlichen Publikum per Zufall ausgewählt wurden. Dies konnte noch direkt vor dem wichtigen Schlussteil passieren, sodass ein nachträglich ausgeloster Glückspilz einem Kandidaten herauswerfen konnte, der sich zuvor mühsam durch alle Runden gekämpft hatte. Kurz, der Vorlauf zum eigentlichen Millionen-Spiel wirkte überladen, chaotisch und ungerecht. Keine idealen Voraussetzungen, um vom Publikum gemocht zu werden. Zudem entstanden durch die Fülle an Teilnehmer und die hohe Anzahl an Vorrunden kaum Möglichkeiten zu den Akteuren Sympathien aufzubauen, wodurch das Ergebnis obendrein unpersönlich und kalt blieb.
Verstärkt wurde dieses Gefühl noch durch die kühle Optik der Produktion, die sich in der bläulichen Farbgestaltung, den vielen Chrom-Elementen auf der Bühne und dem überdimensionalen Studio mit seinen gigantischen Videoleinwänden niederschlug. Außerdem war ständig wenig einladendes Security-Personal im Bild, das die Millionen bewachen und eigentlich für entsprechende Dramatik sorgen sollte. Stattdessen erzeugte dieses noch mehr Distanz. Um dem Vorhaben dennoch nicht seine komplette Menschlichkeit zu rauben, verpflichtete man Kai Pflaume als Moderator für das Event. Er war zuvor insbesondere durch die Romantik-Reihe «Nur die Liebe zählt» aufgefallen, bewies aber auch bei «Die Glücksspirale» und
«Rache ist süß», dass er große Abendshows meistern konnte. Der unpersönlichen Massenabfertigung, den vielen Runden und der frostigen Stimmung konnte allerdings selbst er mit seiner gewohnt netten und soliden Art nichts entgegensetzen.
Vor dem Start zeigte sich Pflaume erwartungsgemäß selbstbewusst und verwies stolz auf das starke Konzept der Sendung: „Die Geldmenge allein reicht nicht“, sagte er gegenüber der Zeitung Die Welt, denn inhaltlich müsse ein Format ebenso überzeugen. Dazu gab er im Vorfeld an, bei einer Sehbeteiligung unterhalb von sechs Millionen Zuschauern enttäuscht zu sein. Um dies gleich vorwegzunehmen, diese selbstgesetzte Marke konnte er mit dem Quiz nie erreichen. Immerhin bewegte sich der Auftakt mit 5,40 Millionen Menschen noch halbwegs in der Nähe des angestrebten Ziels. Jedoch schon die zweite Ausgabe, die eine Woche später folgte, offenbarte mit 4,80 Millionen Zuschauern das geringe Publikumsinteresse. Mit derartigen Einschaltquoten war das aufwendige Theater natürlich nicht zu finanzieren, das immerhin einen siebenstelligen Betrag verschlungen haben soll. Obwohl ein Teil der Kosten mithilfe der gebührenpflichtigen Bewerberhotline (für 1,21 DM) abgefangen werden konnte, war das Format damit trotzdem nicht selbsttragend. Es bestand ein akuter Handlungsbedarf.
Als die Reihe Anfang Oktober aus einer langen Sommerpause mit ihrer dritten Folge zurückkehrte, versuchte das Team mit gravierenden Regeländerungen neue Zuschauer zu begeistern. Dazu wurden nun aus den anfänglich 1.000 Bewerbern bei einer Eröffnungsfrage die fünf schnellsten herausgesucht, die sich jeweils in Solorunden fünf weiteren Fragen stellen mussten. Die drei besten Absolventen traten in einer Zuordnungsaugabe gegeneinander an, wobei der Schwächste wiederum ausschied. Schließlich entschied ein direktes Duell, wer ins Finale einzog. Daneben verabschiedete man sich vom pro-Frage-hängen-wir-eine-Null-an-die-Summe-Prinzip und staffelte die Gewinnetappen in ähnlicher Weise wie bei der RTL-Konkurrenz. Jetzt konnte man mit der selben Anzahl an korrekten Antworten schon eine halbe Million DM erreichen. Sämtliche Maßnahmen versuchten sichtlich, den Ablauf zu verschlanken und orientierten sich deutlich stärker am beliebten Jauch-Pendant. Mit wenig Erfolg, denn die Reichweite sackte weiter auf 4,20 Millionen Zuschauer ab.
Zu allen strukturellen Schwächen kam in jener ersten überholten Ausgabe vom 01. Oktober noch Pech mit dem Kandidaten Francis hinzu. Dieser litt im Laufe des Abends mehrfach unter einem nicht funktionierenden Buzzer, worüber er sich verbal beschwerte. Überdies hatte er auf eine Frage falsch geantwortet und sich im selben Moment noch korrigiert, diesen Punkt aber dennoch nicht zugesprochen bekommen. Bei der entscheidenden Abschlussfrage drückten beide Kontrahenten gleichzeitig den Buzzer, der wieder nicht reagierte. Francis erhielt zwar zunächst das Antwortrecht, doch dann schlug Kai Pflaume vor, eine Werbepause einzulegen, um die Angelegenheit zu klären. Allerdings konnte darin kein eindeutiger Sieger festgestellt werden, sodass Francis das Antwortrecht verlor und eine Ersatzfrage gestellt wurde. Als er diese nicht beantworten konnte, rastete er schließlich vor den laufenden Live-Kameras aus. Vor lauter Wut warf er sein Sakko zu Boden und kritisierte die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Sympathien des Studiopublikums längst verloren, das ihn heftig ausbuhte.
Egal wie man den Fall aus heutiger Sicht bewerten mag, tat er der Sendung nicht gut. Sie rückte damit zwar kurzfristig in den öffentlichen Fokus und wurde u.a. bei «TV Total» besprochen, verlor aber endgültig das Vertrauen der Zuschauer. Dies verstanden schließlich die Programmverantwortlichen und ließen das Projekt langsam auslaufen. Zum Abschluss des Experiments traten in einer Sonderausgabe, die den Untertitel ¨Das Duell der Sieger¨ trug, noch einmal alle bisherigen Finalisten gegen einander an. Dennoch konnte der Höchstgewinn von 10 Millionen Mark nie erobert werden. Wäre es irgendwann dazu gekommen, hätte eine Versicherung den Betrag bezahlen müssen, denn der Sender hatte sich gegen diesen ¨Schadensfall¨ abgesichert. Ein Verfahren, das anfangs bei «Wer wird Millionär?» ebenfalls Anwendung fand.
«Die Chance Deines Lebens» wurde am 18. Oktober 2000 beerdigt und erreichte ein Alter von sechs Folgen. Die Show hinterließ den Moderator Kai Pflaume, der für Sat.1 noch unzählige weitere Quiz-, Comedy- und Unterhaltungsprogramme präsentierte - darunter zwischen 2003 und 2004 auch den Casting-Klassiker
«Star Search». Bis zu seinem Wechsel ins öffentlich-rechtliche Fernsehen im Jahr 2011 blieb er parallel dem Dauerbrenner «Nur die Liebe zählt» treu. Aktuell führt er hauptsächlich durch harmlose Familienunterhaltung und das «Star Quiz». Übrigens, obwohl die Produktion seines 10-Millionen-Mark-Quiz' sehr teuer war, versuchte man offenbar beim Vorspann zu sparen, denn dort wurden genau jene Hubschrauber-Bilder von bekannten deutschen Bauwerken verwendet, die auch beim Opener der
«Harald Schmidt Show» zu sehen waren.
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs widmet sich einer Talentshow mit Tausend Leben.