In der 11.00 Uhr-Stunde sah Philipp Stendebach in die Bildröhre. Sein Urteil ist wie immer: erschreckend.
Seit langem musste ich keine Stunde des Wahnsinns mehr erleiden. Heute war es wieder so weit. 11 Uhr – die perfekte Zeit, um herauszubekommen, mit welchem TV-Programm sich täglich Hausfrauen, Arbeitslose und Rentner herumschlagen müssen. Schon beim Blick in die Fernsehzeitschrift ist klar: Viel Abwechslung wird einem morgens nicht geboten. Es gibt Doku-Soaps, Tier-Dokus und noch mehr Doku-Soaps.
Beginnen wir also bei RTL. Dem Sender, der täglich Paare beim Umzug in die «Erste gemeinsame Wohnung» begleitet. In der heutigen Sendung sucht ein Studentenpaar eine Wohnung. Schon von vornherein ist klar, dass das kein leichtes Unterfangen wird (Nadine hat eine riesige Schuhsammlung, stöckelt mit ihrem Handtäschchen durch Berlin und sie ziert eine wunderhübsche „Nady“-Kette – Erinnerungen an Thomas Anders' Nora werden wach). Nachdem die erste Wohnung viel zu klein war und ihr der „Wohnküchencharakter“ fehlte, finden sie mit einer 615 Euro teuren Wohnung ihr Glück. Schnell umschalten, bevor sie merkt, dass ihr der Wohlfühlcharakter fehlt.
Im Doku-Soap-Rausch führt mich mein Weg zu «Frank – Dem Weddingplaner». Dieser treibt sich im Pyrofachhandel herum, um für ein Paar eine feurige Hochzeit zu kreieren. Dieses ist damit beschäftigt, sich Sprüche auszudenken, die sie verbrennen möchten. Nach einer 300 PS-starken Überraschung für den Mann (überwältigende Reaktion: „Ei... Super!“) entscheiden sie sich, die Tränen verbrennen zu wollen, die sie aus Leid geweint haben. Bevor es mich gleich aus lauter Rührung erfasst, führt mich mein Weg zurück zum Berliner Traumpärchen. Sie befinden sich im Kaufrausch und unter extremem Zeitdruck... Da möchte ich die ich die neue Generation von wohlhabenden Studenten nicht stören und lasse sie lieber allein.
In der dritten Doku-Soap «Zuhause im Glück» wird das Haus einer Familie renoviert, deren Vater eine schwere Nierenkrankheit hat. Während sich die Hausplaner über sich selbst totlachen („Das war doch noch nicht alles, oder?“ - „Nein, du kennst uns doch!“) und eine behagliche Atmosphäre schaffen, fühle ich mich durch die ganzen Schicksalsschläge erdrückt und brauche dringend seelischen Beistand.
Wo kann man den nicht finden, wenn in der Kirche? Bei einer Übertragung in der ARD lerne ich schnell, dass Mainz seit 25 Jahren einen Hirten hat, der durch Intellekt und Volksgewandtheit besticht. Ah, das war mir neu. Es wird träge, träger und noch träger, bis eine Dame erwähnt, dass es eine große Freude sei, dem Bischof zu danken. Mir ist es eine große Ehre und Freude, nun umschalten zu dürfen.
Tiergeschichten könnten einen doch jetzt erheitern. Wie gut, dass im WDR «Pinguin, Löwe & Co.» und im SWR «Eisbär, Affe & Co.» gezeigt werden. Hier kann man Affen beim umziehen, gaffen und klettern bewundern, Elefanten beim gewaschen werden zusehen die Zähne vom Zuckerbarsch bewundern.
Jahreszeitlich angemessener scheint mir da schon die Reportage „Mit Herz, Schweiß und Tränen“ im HR zu sein. Auf dem Oktoberfest sollen Damen Hüte in der Menge verkaufen. Ein schüchternes Mäuschen läuft durch die Reihen und flüstert „Hut, Hut“. Leider kann sie keiner hören und verschwindet klammheimlich. Lauter ist da schon Kiki Cartier (die genaue Schreibweise ist unbekannt), die als „Promilla“ durch die Zelte läuft und Alkohol-Tests durchführt. Sie brüllt „Blasen, Blasen, Blasen“. Vielleicht sollte sie mal dem Hutmädel helfen? Wobei... oh. Sie ist schon entlassen.
Meine letzte Station ist das «Exklusiv» der ARD: In «Brisant» sieht man den Naturmenschen Öff-Öff (er dürfte bekannt sein) vor Gericht. Es ging um sein Kind, allerdings hätte er sich gewünscht, dass der Richter mitkommt, um mit ihm Pilze zu pflücken. Naja, man kann schließlich nicht alles haben. Dann kommt ein Bericht über eine Schönheits-Chirurgin, die aus ihrem „Erfahrungspool“ berichtet. Sie entfernt einer 69-Jährigen die Schlupflider und erzählt aus eigener Erfahrung, dass sich früher Homosexuelle operiert haben lassen und heute Manager, um den beruflichen Erfolg zu steigern. Mit der Einsicht des Moderators, dass jeder Eingriff gesundheitliche Risiken birgt (Wer hätte es für möglich gehalten?) schließt das Magazin und meine Stunde Wahnsinn.
Was haben wir heute gelernt? Dass sich Hüte auf dem Oktoberfest schon besser verkauft haben und dass Mainz einen Hirten hat. Zum Glück habe ich diese Stunde fern gesehen, was wäre mir sonst alles durch die Lappen gegangen.
04.10.2008 11:03 Uhr
• Philipp Stendebach
Kurz-URL: qmde.de/30159