1 Stunde Wahnsinn: Fragwürdige Nachtgestalten
Während andere schliefen, verfolgte Redakteur Philipp Stendebach eine Stunde lang das deutsche Fernsehprogramm.
Es ist Mittwochnacht, 0 Uhr. Während die meisten Menschen sicherlich schon mehr oder weniger friedlich schlafen, sitze ich auf meinem Sofa und sehe eine Stunde des Wahnsinns auf mich zu kommen. Zunächst überrascht von der relativen Themenvielfalt, wird das Programm spürbar schlechter, je näher man sich der 1 nähert.
«TV Total» ist ein guter Start, denke ich mir. Nur noch wenige Minuten läuft die werktägliche Show, also nichts wie hin. Doch wer steht denn da auf der Bühne? Ein gewisser Sven Van Thom (kniffliges Wortspiel bemerkt?) singt den neuen Super-Hit “Jaqueline, ich hab Berlin gekauft”. Viel mehr versucht er damit, beim Bundesvision-Song-Contest 2009 zu landen. Und dass, obwohl er mit seiner Band Beatplanet vor zwei Jahren auf den 15. Platz kam. Von 16, wohlgemerkt. Jetzt springt er in einem modernen Oldschool-Anzug über die Bühne, begleitet von einem debilen Keyboard-Spieler in Strickgewand. Die dubiose (Musik?!)-Perfomance lässt auf keinen besseren Platz hoffen, meiner Meinung nach. Jetzt noch die routinierte Vorstellung der Wok-WM, wobei ich mich frage, warum sie nicht endlich mal ein neues Werbeplakat entwerfen können.
In der ARD läuft zeitgleich die Dokumentation «Ware Haare - Das weltweite Geschäft mit der Schönheit». Dort reden Betroffene von ihren Haarausfällen und wünschen sich nichts sehnlicher, als einen voll bewachsenen Kopf zu haben. Auf der anderen Seite sitzen Menschen in einer Fabrik und sortieren Menschenhaar nach Farbe und Qualität. Das hochwertigste kommt aus Indien - und dort lassen sie es sich abschneiden, um Gott zu danken. Was für ein Kreislauf. Ähnlich ernst geht es bei Kerner zur Sache, bei dem ein ehemaliger Stotterer und sein Therapeut zu Gast sind. Sobald ich jedoch Johann Lafer erblicke, kann ich nicht anders als umzuschalten, in der Angst, gleich in seinem bestimmt kommenden sinnlosen Wortschwall zu ertrinken.
RTL versucht sich derweil in einem revolutionären Test: Thematisch passend zu dem 16-jährigen Lucas, der aufgrund eines Kneipenbesuchs an einer Alkoholvergiftung starb, schickt die RTL-Redaktion einen 12-Jährigen los (wir wissen alle, RTL übertreibt gerne), um zu sehen, wie verantwortungsvoll die Wirte sind. Und der Schreck ist da: Er bekommt Schnäpse! Was keiner erwartet hätte, hat die Redaktion knallhart und erfrischend neuartig aufgedeckt. Respekt! Mein Kulturbedürfnis erwacht sobald und leitet mich zu 3sat, wo eine Reportage über die Berlinale läuft. Über die schwierige Lage des Films in Indonesien wird berichtet, um das einzige schwul-lesbische Filmfestival in dem Land und dessen schwierige Umsetzung. Trotz des interessanten Beitrags überkommt mich langsam die Müdigkeit.
Ein Glück, dass in dem Moment Astro-TV ruft. Hier müssen sich die Interessenten nicht mal Fragen ausdenken - sie bekommen gleich so Antworten. Damit auch jeder Gehirnamputierte mitmachen kann. Für Birgit diagnostiziert der Astro-Man ein riesiges Tohuwabohu. Passend dazu meint er, ihr Lebensgefährte habe eine andere Frau. Ich bin erschüttert von der plötzlich Härte, hatte ich doch eigentlich etwas Beschönigendes erwartet. Das folgt auch gleich darauf, als er der 62-jährigen Ruth erklärt, ihre ganzen Finanzprobleme würden sich auflösen und sie würde die Partnerschaft ihres Lebens finden. Von diesem Scharlatan habe ich erst einmal genug und schalte einen Kanal weiter - Yippeah - 9Live!
Offenbar haben sich hier die Spielchen seit dem vergangenen Jahr nicht verändert, denn erneut werden Tiere ohne A, B, C, E, F, G, J, L, M, O, P, Q, S, T, V, W, X, Y, Z, Ä, Ö und U gesucht, Mensch, ist das spannend. So spannend, dass der Moderator einmal wieder vergeblich auf einen Anrufer wartet. Die Kuh, der Hund, der Uhu und das Rind wurden schon erraten, der Moderator kann sich kaum noch halten. Bis die autoritäre Stimme von oben die dritte Spielrunde fordert. Nun werden Tiere ohne A, B, C, D, E, G, I, J, K, M, N, P, Q, R, S, T, U, V, X, Y, Z, Ä, Ö und Ü gesucht - Der Spielführer droht sofort damit, nicht mehr weiter zu machen. “Das halte ich nicht aus!”, krakelt er. Bevor ich zusehen muss, wie er an dieser Gewissensfrage scheitert, schalte ich lieber weiter.
Zurück bei Astro-TV, schweigt der “Mentalist” den Zuschauer an. Er fragt sich sicher gerade, ob sich Birgit nach seiner pessimistischen Prognose umgebracht hat. Egal, sein Leben geht weiter und die nächste Anruferin wartet schon in der Leitung. Nach einem “Hallo” ihrerseits hört der Zuschauer plötzlich nur noch den Hellseher, wie er fragwürdige Antworten auf ihre Fragen gibt. Nach kurzer Zeit verstehe ich erst, dass es sich gar nicht um einen Ausfall handelt, sondern dass die Beratung so anonym ist, dass tatsächlich nur er ihre Stimme hören kann. Ein wirklich sehr unterhaltsames Unterfangen.
Auf RTL ist soeben die Wiederholung der neuesten «DSDS»-Folge gestartet. Ich muss gestehen, noch keine einzige Folge der neuen Staffel gesehen zu haben. Sobald das Gefasel über Personality, Mut und Verzauberung kommt (vollkommen neue Attribute, auf die man Wert legen will) weiß ich auch, warum ich das Format bisher gemieden habe. Ich bin mal wieder überrascht von der Tatsache, was für Erwartungen die jungen Leute in diese Show legen - vollkommen unangebracht und realitätsfern.
Mein Weg führt vorbei am NDR, wo Uwe Ochsenknecht um eine Unterkunft bei «Zimmer Frei» bittet, am DSF, wo das höchst kreative Bilderrätsel der vorherigen Sendung mit Füßen getreten wird und wieder zurück zu «DSDS» - ich könnte ja was verpassen. Hier gab es offenbar Stress in einer Gruppe, sodass sie nicht zusammen auftreten können. Der eine fühlt sich schon wie ein Superstar und hält die anderen für Amateure. Bevor sie dann doch anfangen zu singen, ist mir die Lust am Nachtprogramm endgültig vergangen und ich widme mich doch wieder meinem wohlverdienten Schlaf. 8 Stunden, in denen ich unter keinen Umständen von irgendwelchen TV-Gestalten verfolgt werden kann - oder etwa doch?
13.02.2009 10:00 Uhr
• Philipp Stendebach
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