Die Kritiker: «Es liegt mir auf der Zunge»

Story
Deutschland in den 50er Jahren: Der mäßig erfolgreiche Schauspieler Carl Clemens Hahn weiß nicht, wie er die nächste Miete bezahlen soll, als er sein Theaterengagement kündigt und beim neu gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunk das Konzept einer Fernsehkochsendung vorstellt. Obwohl bei weitem nicht jeder Bundesbürger einen Fernsehapparat besitzt und ein tägliches Sendeprogramm erst vor wenigen Monaten etabliert wurde, trifft Hahn den Nerv der Zeit. Zur besten Sendezeit präsentiert der Schauspieler unter seinem Künstlernamen Clemens Wilmenrod die erste Kochsendung der Fernsehgeschichte, unbekümmert der Tatsache, dass er keinerlei Kochkenntnisse hat – in seiner Rolle als Schauspieler sorgt er sich nicht um handwerkliches Wissen.

Die in den Nachkriegsjahren langsam zur Normalität zurückfindende Bevölkerung hängt dennoch begeistert an den Lippen des eloquenten und rhetorisch überaus bewanderten Schauspielers. Hahns Popularität beim Publikum steigt, das nur zu gerne seinen angeblichen Ausflügen in ferne Länder lauscht und einfachste Gerichte mit hochtrabenden Namen wie «Päpstliches Huhn» oder «Arabisches Reiterfleisch» begeistert nachkocht. Hahns Ehefrau Erika wittert unterdessen das große Geschäft und schließt Verträge mit Lebensmittelhändlern und Küchengeräteherstellern, die sich in die Sendung einkaufen.

Doch während teure Autos, Häuser und Alkoholika das Leben und das Selbstbewusstsein des einst mittellosen Schauspielers schmücken, steht er beruflich wie privat vor einem Trümmerfeld: Hahn werden Schleichwerbung und Plagiatsvorwürfe nachgesagt, gelernte Köche und Berufsverbände kritisieren seine Arbeit und die Ehe mit Erika ist durch seine Popularität bei deutschen Hausfrauen mehr als angespannt.

Darsteller
Jan Josef Liefers («Tatort») ist Carl Clemens Hahn alias Clemens Wilmenrod
Anna Loos («Anatomie») ist Erika Wilmenrod
Justus von Dohnányi («Das Experiment») ist Willi Schmittke
Mira Bartuschek («Crazy») ist Hilde Boberg
Catrin Striebeck («Gegen die Wand») ist Ruth Singer
Gustav Peter Wöhler («Absolute Giganten») ist Intendant Bruns
Victoria Trauttmansdorff («Adam & Eva») ist Gertrud Hahn

Kritik
Es war eine deutsche Erfolgsgeschichte mit tragischem Ende, die den Grundstein heutiger Fernsehunterhaltung gelegt hat: Carl Clemens Hahn verdingte sich in den 50er Jahren als kaum beachteter Schauspieler auf Provinzbühnen, bevor er mit dem Konzept der ersten deutschen Kochsendung im Fernsehen zu Ruhm und Reichtum gelangte. Der nominelle Erfinder des Toast Hawaii, des Arabischen Reiterfleisches und der gefüllten Erdbeere begeisterte jeden Freitagabend Millionen von Zuschauern – in einer Zeit, in der nur wenige Deutsche einen Fernsehapparat besaßen. Von seinen fehlenden Kochkünsten lenkte er mit rhetorischem Geschick und Hang zu monumentalen Fabelgeschichten ab, die Selbstinszenierung seiner selbst als Schauspieler stets im Vordergrund.

Hahn, der unter seinem Künstlernamen Clemens Wilmenrod das Fernsehpublikum mit Dosengemüse und allerhand technischen Gerätschaften aus Werbeverträgen begeisterte, wurde seine fatale Arroganz und Selbstüberschätzung zum Verhängnis: Nach elf Jahren war er in der Welt der Profiköche verhasst, ehemalige Freunde und Konkurrenten neideten ihm seinen Erfolg und die von Ehefrau Erika vermögenswirksam eingefädelten Werbeverträge mit Herstellern von Küchengeräten und Lebensmittelhändlern entfachten die erste Debatte über Schleichwerbung im deutschen Fernsehen.

Doch bis der Fernsehfilm «Es liegt mir auf der Zunge» den Abstieg des ersten deutschen Fernsehkochs Deutschlands betrachtet, darf sich der geneigte Zuschauer in einer grellbunten Welt des beginnenden Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre suhlen. Jan Josef Liefers brilliert in dem sowie hervorragend besetzten Film als rhetorisch geschliffener Wilmenrod mit Hang zur politischen Unkorrektheit, der seine Kochsendung ganz nebenbei als Werbefläche und Bühne seiner eigenen Genialität gebraucht. Das Drehbuch von Lothar Kurzawa ist dabei dem wahren Leben von Hahn alias Wilmenrod nachempfunden und zu einem imposanten Portrait des heute längst vergessenen Fernsehkochs geworden. Mit Liebe zum Detail wurde eine nostalgisch überzeichnete Kulisse der 50er Jahre entworfen, die dem Rahmen der Wilmenrod-Biographie mehr als angemessen ist – da sei die ein oder andere Länge verziehen.

Das auf dem Internationalen Fernsehfestival Zoom mit dem Kritikerpreis für den besten europäischen Fernsehfilm und dem Preis für den besten Regisseur (Kaspar Heidelbach) ausgezeichnete Portrait «Es liegt mir auf der Zunge» ist eine stilsichere Reise in die Anfangsjahre des Fernsehens, die mit reichlich Witz und guten Schauspielern aufwartet.

Das Erste zeigt «Es liegt mir auf der Zunge» am Mittwoch, den 25. November 2009 um 20:15 Uhr.
24.11.2009 10:28 Uhr  •  Jakob Bokelmann Kurz-URL: qmde.de/38639