Ist der neue Film von Tim Burton das erhoffte Meisterwerk oder lohnt sich der Kinobesuch nicht?
Bis zum Jahr 2010 musste es dauern, bis das Traumprojekt von Tim Burton – eine Verfilmung der «Alice im Wunderland»-Geschichte – auf der Kinoleinwand zu bestaunen ist. Und wo Burton («Beetlejuice», «Charlie und die Schokoladenfabrik») arbeitet, da ist auch Hollywood-Superstar Johnny Depp («Fluch der Karibik», «Die neun Pforten») nicht weit: Er gibt im neuen Streifen den verrückten Hutmacher, dessen Rolle auf ihn so wunderbar maßgeschneidert passt wie sein Hut, den er im Film trägt – so viel sei vorweg genommen. In dem unter dem Disney-Label gezeigten Kinofilm wird die Geschichte der 19-jährigen Alice Kingsley (Mia Wasikowska) erzählt. 13 Jahre sind nach ihrer ersten und aus den Buchvorlagen von Lewis Carroll und den sonstigen Verfilmungen bekannten Reise ins Wunderland vergangen. Auf einem viktorianischen Tanzfest wird für sie völlig überraschend vor der versammelten Aristokratie von ihrem biederen Verehrer um ihre Hand angehalten, doch Alice ist unsicher und flüchtet einem Jackett tragenden Hasen nach, den sie schon aus ihren Träumen zu kennen glaubt. Sie fällt bei der Suche versehentlich in ein Erdloch, das sie ins Wunderland befördert, wo die rote Königin (Helena Bonham Carter) und ihr Herzbube (Crispin Glover) das Land und dessen Bewohner terrorisieren. Doch die Vorsehung sagt, dass Alice wiederkommen wird und die rote Königin vom Thron stürzt. Und da ist sie plötzlich, die erhoffte Heldin Alice. Dass sie allerdings die Rolle spielen soll, die den Untergang des Wunderlandes verhindern soll, erfährt sie erst, als es schon zu spät zur Umkehr ist. Und damit beginnt das eigentliche Abenteuer von Alice und ihren zukünftigen Helfern wie dem Hutmacher, dem Hasen und der Grinsekatze.
Die bekannte Metaphorik des Nicht-Erwachsenwerdenwollens wird in diesem Film weit getrieben: Alice, mittlerweile 19 Jahre alt und damit schon fast eine Frau, fühlt sich immer noch wie das kleine Mädchen, das 13 Jahre zuvor schon ihr Wunderland besucht hat und nun immer wieder an dessen Realität zweifelt. Der verrückte Hutmacher, die böse, aber kindische Königin, all die wunderbaren Bewohner vom Wunderland – all sie sind Symbole der Kindlichkeit, die sich der Mensch bewahren sollte und innerlich bewahrt hat. Nur Alice scheint erwachsen geworden und verkörpert äußerlich fast das Gegenteil des allzu verwunderten und naiven jungen Mädchens, das wir bisher aus dem Originalwerk oder diversen Verfilmungen kannten. Innerlich aber scheint sie die kleine Alice geblieben.
Und so verändert sich mit des Filmes Prämisse, von der Burton und Drehbuchautorin Linda Woolverton ausgehen, auch seine implizite Aussage: Am Ende steht eine erwachsene, adoleszente und gereifte Alice, die aus ihrem zweiten Besuch im Wunderland die Erkenntnis gewonnen hat, auf ihr Herz zu hören und als selbstbewusste junge Frau ihren eigenen Weg im Leben zu gehen. Sie lehnt schließlich nach ihrer Rückkehr aus dem Wunderland den Heiratsantrag ihres aristokratischen Verehrers ab und reist stattdessen als Geschäftsfrau – wir befinden uns wohlgemerkt viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts – ins ferne China, in ihr reales Wunderland.
Zugunsten des nun also sogar leicht feministisch angehauchten Abenteuers der fast erwachsenen Alice Kingsley müssen allerdings die Atmosphäre und der Charme der bekannten Vorlagen weichen. Die alte Wunderland-Geschichte, die sowohl kleine Kinder mit ihrer episodenhaften Erzählweise und ihren kitschigen Figuren, junge Erwachsene, die oftmals in das Buch und die Filme eine versteckte Drogen-Metaphorik interpretierten, als auch ältere Leser durch die einfach damals unkonventionelle Story begeisterte, findet man in Burtons neuem Film nur noch ansatzweise. Die Story wirkt plump und wartet mit einigen groben Plotholes auf. Die eigentliche andersartige und unverwechselbare Geschichte der Alice im Wunderland weicht im Disney-Film einer durchschnittlichen, massenkompatiblen Erzählung, die vorhersehbar und im klassischen Stil aufgebaut ist.
Dies birgt besonders die Gefahr von Längen – glücklicherweise gestaltet sich der Burton-Film dennoch meist kurzweilig, auch besonders durch einzelne humorvolle und detailverliebte Szenen, die sich Zeit für die Darstellung der skurrilen Wunderland-Bewohner nehmen. Dennoch bedienen sich der dramaturgische Aufbau, die zwanghaft eingefügten melancholischen Szenen und das klimaktische Ende mit dem traditionell großen Kampf der Armeen der Königinnen und dem Sieg des Guten über das Böse aller gängiger Hollywood-Klischees, die seit «Herr der Ringe» und «Narnia» im Fantasy-Genre etabliert sind. Damit einher geht eine deutliche Spannungsarmut, die besonders ältere Kinobesucher enttäuschen könnte. Denn es wird eindeutig, dass Disney diesen «Alice im Wunderland» auf harm- und anspruchslosen Familienfilm getrimmt hat – ohne viel Interpretationsspielraum wie bei den früheren Verfilmungen oder dem Werk selbst.
Die nicht übersehbare Schwäche der Story – und damit der Hauptkritikpunkt des Filmes – kann allerdings durch das visuelle Bilderfeuerwerk egalisiert werden, das Tim Burton erschaffen hat. Das Unterland, so wird das Wunderland von seinen Bewohnern eigentlich genannt, gestaltet sich wundervoll, detailverliebt und wirkt besonders in 3-D höchst beeindruckend. Auch der landschaftliche Verfall, der augenscheinlich 13 Jahre nach Alices´ erstem Besuch eingetreten ist, wurde akzentuiert in Szene gesetzt. Kamerafahrten und –einstellungen, besonders bei den Szenen, in welchen Alice ihre Größe wechselt, suchen aktuell Ihresgleichen. Insgesamt ist es ein wahrlich „wundervolles“, höchst facettenreiches Wunderland, das sich vor den Augen des Zuschauers erstreckt. Damit koinzidiert der opulente Soundtrack von Denny Elfman, welcher die Szenen im Einklang mit den fantasievollen Bilderwelten kongenial untermalt und so ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk erschafft.
Und was diesen Film trotz aller Kritik an der spannungsarmen Geschichte letztlich sehenswert macht, sind die sympathischen Figuren, die bildlich ebenfalls hervorragend in Szene gesetzt werden und oftmals für Schmunzler gut sind. Dabei schaffen es sowohl die CGI-Charaktere, wie die Grinsekatze oder die Cousins Tweedledum und Tweedledee, als auch die echten Schauspieler wie Johnny Depp als verrückter Hutmacher oder Helena Bonham Carter («Sweeney Todd», «Harry Potter») als rote Königin dem Wunderland den paranoiden und skurrilen Anstrich zu verpassen, der von der Neuverfilmung erwartet wurde. Insbesondere die schauspielerische Leistung von Carter als böse, kindliche Königin ist originell und exzellent. Sie übertrumpft dabei sogar jenen Depp als Hutmacher, obwohl auch er eine sehr überzeugende Leistung abliefert, die den Kinobesucher jede neue Szene der Figur herbeisehnen lässt. Lediglich Hauptdarstellerin Mia Wasikowska («In Treatment») als Alice bleibt etwas blass und ausdruckslos, insbesondere im dritten und letzten Akt des Schauspiels, wo sie wenig überzeugend eine heroische Kämpferin geben soll.
Regisseur Tim Burton hat mit «Alice im Wunderland» die im Vorfeld hochgesteckten Ambitionen sicherlich nicht erfüllen können, was auch daran liegen mag, dass dieses von vielen herbeigesehnte Traumprojekt des Kultregisseurs doch harm- und zahnloser, ja bunter und familiärer ausgefallen ist als erhofft. Der Zuschauer findet hier keine düstere oder apokalyptische Interpretation des Alice-Mythos, sondern ein storymäßig durchschnittliches und wenig innovatives, familiengerechtes Bildspektakel, das besonders aufgrund der Gestaltung des Wunderlands, der kultverdächtigen Charaktere und der schauspielerischen Leistungen überzeugen kann und daher für einen Kinobesuch empfehlenswert ist. Ein moderner Klassiker wird dieser neue Burton allerdings mit ziemlicher Sicherheit nicht. Sondern er reiht sich nahtlos in die Reihe der zwar wirklich guten, aber nicht meisterhaften Burton-Filme der letzten Jahre wie «Charlie und die Schokoladenfabrik», «Corpse Bride» und «Sweeney Todd» ein.
«Alice im Wunderland» wird seit Donnerstag in vielen deutschen Kinos gezeigt.