Die Kritiker: «Der andere Junge»

Story
In einem Hamburger Vorort leben die Morells und Wagners, je Vater-Mutter-Sohn, Durchschnittsfamilien auch auf den zweiten Blick. Seit Jahren sind die Väter befreundet, arbeiten in der gleichen Firma, einem Vertrieb für schwedische Fertighäuser. Regelmäßige Doppelkopfpartien der Erwachsenen runden das Bild familiärer Geordnetheit ab. Was die Eltern nicht wissen: Zwischen ihren pubertierenden Söhnen besteht eine brutal-verzweifelte Feindschaft. Robert, der jüngere und kleinere, wird von Paul regelmäßig abgezogen. Eines Tages sieht sich Robert von seinem sadistischen Peiniger so sehr in die Enge getrieben, dass er ihn erschießt. Als seine Eltern daraufhin die Leiche des Nachbarjungen vergraben und alles dransetzen, die Tat zu vertuschen – „Wem nutzt schon die Wahrheit?“ – ist dies der Beginn einer Tragödie, wie sie verzweifelter und drastischer nicht sein könnte.

Darsteller
Peter Lohmeyer («Allein gegen die Zeit») ist Winnie Morell
Andrea Sawatzki («Klimawechsel», «Tatort») ist Evchen Morell
Christian Berkel («Der Kriminalist») ist Jakob Wagner
Barbara Auer («Lotta & die alten Eisen») ist Sylvie Wagner
Willi Gerk («Wenn die Welt uns gehört») ist Robert Morell
Adrian Topol («Black Forest») ist Kevin Krüger
Tim Oliver Schultz («Heute keine Entlassung») ist Paul Wagner
Gustav Peter Wöhler («Es liegt mir auf der Zunge») ist Ole Swenson
Hinnerk Schönemann («Mörder auf Amrum») ist Kommissar Bender

Kritik
Der vom NDR produzierte Film unter der Regie von Volker Einrauch besticht durch seine Schlichtheit der filmischen Mittel. Großen Anteil hat auch der hochkarätig besetzte Cast, der das Niveau des Films auf einen guten Standard bringt. Die Geschichte, die das Drehbuch von Lothar Kurzawa beschreibt, ist eine sehr melancholische, traurige und ganz düstere Geschichte. Dabei geht es um Mobbing, Freundschaft und Rache sowie die Aspekte unterschiedlicher Ehetypen und dem beruflichen Konkurrenzkampf unter Freunden. Die überwiegend dunkele Atmosphäre in dem Film zeugt von einer Geradlinigkeit in der Umsetzung. Auch wenn mehrere Themen behandelt werden, so bleibt die Haupthandlung stets im Vordergrund. Der tragische Mord im Affekt, der bis zum Schluss nicht aufgedeckt wird, macht nicht nur den beiden Familien auf unterschiedliche Art und Weise zu schaffen, sondern lässt auch das einstige Opfer Robert zum Täter werden, der ein Trauma bewältigen muss. Der Frust seines Vaters, den Christian Berkel spielt, gipfelt sich dann in versuchter Selbstjustiz, die mit seinem Tod endet. Es ist die beste Szene in «Der andere Junge» überhaupt, als Christian Berkel als der über den Verlust seines Kindes leidende Vater auf den mutmaßlichen Täter Kevin, gespielt von Adrian Topol trifft. Im schwachen Auto-Scheinwerferlicht unter einer Brücke in düsterer Nacht bedroht der Vater den angeblichen Mörder seines Sohnes mit seiner Waffe, bringt es aber nicht fertig ihn zu erschießen. Als der Vater zusammenbricht, erschießt ihn der vorbestrafte Drogen-Dealer hinterrücks. Eine hochemotionale Sequenz, die von beiden Schauspielern sehr dramatisch und vollkommen überzeugend gespielt wurde. Hier kommt es zu echtem Gänsehaut-Feeling, denn die überaus gelungene Szene wirkt nachhaltig. Doch auch die weiteren Protagonisten werden. hervorragend gespielt. Andrea Sawatzki spielt die Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs mehr als überzeugend. Auch Barbara Auer kauft man ihre Rolle als Mutter, die ihr Kind verloren hat, ab. Peter Lohmeyer spielt den besorgten Vater, der kühl und geheimnisvoll die Tat seines Sohnes verschleiert. Dann wären da noch die beiden Jung-Schauspieler, die vor allem zu Anfang des Films dem Geschehen eine ganz besondere Note geben. Denn Tim Oliver Schultz, der als ermordeter Paul Wagner schon früh ausscheidet, brilliert in der Rolle des mobbenden Mitschülers. Die Spannung, die zwischen seinem Charakter und dem von Willi Gerk herrscht, ist nicht leicht hinzubekommen, was ein Sonderlob für die gute Schauspielleistung verdient hat. Auch ist der Kontrast zwischen Aussehen und Handlung in der Figur von Paul Wagner gut umgesetzt worden. Der anscheinend brave Junge ist wirklich jemand, der Schwächere abzieht. Willi Gerk ist zu Beginn die Opferrolle zuteil, die vor allem Mitleid weckt. Nach dem Mord im Affekt übernimmt er die Täterrolle, muss aber schon wenig später mit einem Trauma klar kommen. Keine leichte Aufgabe. Die herausragenden schauspielerischen Leistungen sind also ein großes Plus für den Film.

Dass die filmische Umsetzung ganz ohne große Effekte auskommt, ist typisch für öffentlich-rechtliche Produktionen, aber gerade für diesen Film ein großer Vorteil. Das bringt zwar nicht die Nonstop-Spannung in das Drama, doch so können manche Szenen wie die bereits schon erwähnte Sequenz zwischen Berkel und Topol herausstechen. Da man sich ansonsten auf bewährte stilistische Mittel beschränkt, die wunderbar in die Inszenierung passen, gibt es hieran nichts zu mäkeln. Auch einen Leerlauf gibt es nicht, was der Langeweile, die an manchen Stellen aufkommen mag, vorbeugt. Denn jeweils zum richtigen Zeitpunkt hat man eine neueinsetzende Handlung eingebaut, die neue Spannung oder eine Kehrtwende in der Haupthandlung verspricht. Allerdings verspricht das Ende keine Rätsellösungen, sondern gibt schon eher welche auf. Denn der Schluss ist offen gewählt, der Zuschauer mag sich den Ausgang der Geschichten rund um die Protagonisten selbst ausdenken. Auf ein Happy End wurde verzichtet, vielmehr bleibt man realistisch. Das ist zum einen löblich, versucht man nicht krampfhaft ein gutes Ende hinzubiegen, was dem Film schlussendlich nur geschadet hätte. Zum anderen bleibt damit die tiefgreifende Botschaft des Films etwas verborgen. So schafft es die Schlusssequenz nicht dem Zuschauer etwas mit auf den Weg zu gehen. Mit dem Ende des Films mag er sich zwar seine Gedanken machen können, doch wünscht man sich ein paar mehr Indizien, die nicht mehr gegeben werden. Eines Happy Ends hätte es nicht bedurft, doch zumindest die Geschichte um den jungen Robert und seine Eltern sowie die nun verwitwete Sylvie Wagner noch ein paar Minuten ins Blickfeld rücken können.

Das Erste zeigt den Film «Der andere Junge» am Mittwoch, den 12. Mai 2010 um 20.15 Uhr.
10.05.2010 13:48 Uhr  •  Jürgen Kirsch Kurz-URL: qmde.de/41875