«Lost»: Men of Science vs. Men of Faith

Die Ungewissheit hat endlich ein Ende. Am Mittwoch flimmerte im Bezahlfernsehen mit der letzten Episode von Staffel sechs auch hierzulande das Finale der Serie «Lost» über die Bildschirme.

Desmond Hume:
This doesn't matter. Him destroying the Island, you destroying him. It doesn't matter.You're going to lower me into that light, and I'm going to go somewhere else. A place we can be with our loved ones. A place where we never have to think of this dammed place again. And you know the best part Jack, you are in this place.

Jack Shephard:
What happened, happened. All of this matters.



4 8 15 16 23 42. Welche Bedeutung besitzen die allerorts vertretenen Zahlen? Wie ist es der Insel möglich, Verletzungen ihrer Bewohner zu heilen? Weshalb war das Austragen eines Kindes über Jahrzehnte hinweg nicht möglich? Was hat es mit den Fähigkeiten Walts und Aarons auf sich? Wieso hat Jacobs Statue lediglich vier Zehen? Worin liegen Beweggründe und Anfänge der Anderen bzw. Dharma-Iniatitive. Welchen tieferen Sinn birgt die Insel? Wer ist Jacob und was bestimmt sein Handeln? Woher nimmt Sawyer seine unzähligen Spitznamen, wenn nicht von Drehbuchautoren? Fragen über Fragen. Seit «Lost» im Jahre 2004 seinen Anfang nahm, hat es treue Anhänger dazu veranlasst, eine Enzyklopädie zum Thema zu formen, Abhandlungen, Fanfiction und unzählige Forenbeiträge aller Art niederzuschreiben sowie sich ganz allgemein zu den jeweiligen Staffelauftakten und -finals in tiefe Sinnkrisen zu stürzen. Wirklich beantwortet wurden nur circa die Hälfte der obigen Fragen – die Worte 'miserabel' und 'befriedigend' fallen im Kontext unter Fans allerdings weitaus häufiger als 'hervorragend'.

In der Kritik zur ersten Episode von Staffel sechs war von einem Deus Ex Machina die Rede, den sich die Serienväter Carlton Cuse und Damon Lindelof zu Eigen gemacht haben. Gemeint sind damit die so betitelten FlashSideWays, welche eine alternative Realität zum Zentrum haben, in der Oceanic Flug 815 nie abgestürzt ist und die Losties ein gänzlich verdrehtes Leben führen. Jack beispielsweise ist mit Juliet verheiratet, der bertrügerische Sawyer ein Polizist und Locke sitzt wieder im Rollstuhl. Bereits in 6x01 wirkte das Paralleluniversum vollkommen deplatziert und antiseptisch – einmal abgesehen von dem Unverständnis, mit dem man ihm ohne eine weitere Erklärung automatisch begegnen musste. Nach dem buchstäblich explosiven Finale der fünften Staffel, fand man sich aber im ersten Zweiteiler mit dem neuen Konzept ab und setzte auch weiterhin sein Vertrauen in die Autoren, der Serie endlich ihrer Geheimnisse zu entledigen und zu einem runden Ende zu führen. Doch nur alsbald sah man sich gezwungen seine Träume aufzugeben: Während die unergiebigen FlashSideWays durch ihre reine Nichtigkeit das Gesamtbild zerstörten, kam auch überdies keinerlei Endstimmung auf. Nach sechs Jahren hatte «Lost» seinen Charme verloren.

Man hatte alles überstanden. Eisbären, Zuschauerflauten und auch Zeitsprünge. Doch auf der Zielgeraden ging der Serie dann schließlich der Atem aus. Der Grund ist nicht lange zu suchen: Wenn auch kontinuierlich Matrosen das unmerklich sinkende Schiff verließen, so glaubte man doch bis zuletzt an den angeblichen, stets betonten Masterplan der Erfinder. Dieser stünde immerhin seit dem Piloten fest, hieß es. Die Tatsache, dass nach 15 Episoden der endgültig letzten Staffel etwa drei Mysterien unzufriedenstellend gelöst und der Rest auf Grund eigener Inkompetenz nicht einmal erwähnt wurden, nahm den langjährigen Fürsprechern den Wind aus den Segeln. Den Charakter Sayid ließ man im unerheblichen ersten Teil der Staffel, der sich um den zwar nie zuvor erwähnten, aber immens wichtigen Tempel drehte, zu einem emotionslosen Zombie mutieren, dessen Überzeugungen sich mit jeder Köperdrehung änderten. Ohnehin verloren Figuren wie Jack, Sawyer und Kate in den 40 Minuten einer Folge mindestens zwei Mal ihre Nerven und warfen ihre Ansichten über den Haufen.

Wirklich fantastisch wurde es allerdings erst mit dem Motiv all dessen, das die Helden der Serie über sechs Seasons vorantrieb und zumeist ausmachte. Den Hintergrund der Insel, ihren Ursprung, ihre Bedeutung. Hätte man vor Beginn der Pre-Production von Season 6 einen Zuschauer, der «Lost» zwar einst verfolgte, doch bereits vor langer Zeit aufgegeben hat, in den Autorenraum gebeten und beauftragt, ein Drehbuch zum Finale zu schreiben, so wäre mit überaus hoher Wahrscheinlichkeit ein mit der Realität vergleichbares Ergebnis entstanden: Jacob und sein namensloser Bruder wurden vor Jahrhunderten auf der Insel entbunden, von einer Frau, die dort offensichtlich die Aufgabe des Beschützers einnahm. Wieso, weshalb, warum – Fragen, die somit nie geklärt wurden. Ganz im Gegenteil zu der Sache, um die sich eigentlich alles dreht: Licht. Eine ominöse Lichtquelle, die mit einem Korken versehen ist, den es zu bewachen gilt, bis ein anderer diese Rolle übernimmt. Dass sich Cuse und Lindelof offiziell nicht mehr zu dieser Auflösung äußern wollten und werden, sagt alles Übrige.


Jack, der gerade von Geister-Jacob dessen Amt übertragen bekam, war hierfür auch die naheliegenste Wahl, so der Mann in Schwarz alias Flocke alias Samuel. Allerdings nicht nur die naheliegenste, sondern auch die Richtige. Jack war stets ein Streitpunkt unter den Fans, da sich sein Storyarc nur immer wieder zu wiederholen schien. Dass die Figur mit ihrem letztem Lauf viel wett gemacht hat, was primär dem grandiosen Matthew Fox zu verdanken war, bestreitet im Nachhinein aber niemand. Gemeinsam mit seiner Gruppe macht sich nun Jack dorthin auf, wo alles begann. Hinter dem Bambusfeld, in dem er zu Beginn der Serie erwachte, wird alles zu seinem Ende finden. Auch MiB, in Gestalt von Locke ist zur Quelle unterwegs. Der Schlüssel ihrer beiden Absichten ist Desmond, der den magnetischen Widerständen innerhalb der Höhle als einziger überleben kann. Dieser ist in der alternativen Zeitlinie damit beschäftigt, die erinnerungslosen Losties an einen Ort zu bringen, um dort seine Geheimniskrämerei auflösen zu lassen. Das erste Mal seit Langem entsteht Aufbruchsstimmung.

Jack und Locke, die nicht augenblicklich handgreiflich werden, sondern zuvor mehr oder minder Hand in Hand zur Quelle schreiten, müssen nach dem Ziehen des Korkens feststellen, dass sie ihrerseits beide in einigen Punkten Unrecht hatten und es nun eben doch auf den guten, alten Faustkampf hinaus laufen muss. Auch wenn Kate und nicht Jack ihrem Kontrahenten den sprichwörtlichen Todesstoß versetzen durfte, so wurde die Story letzteren dennoch ansprechend umgesetzt. Die letzte Szene rührte sicherlich nicht wenige Anhänger zu Tränen. Weniger anmutend ist da schon die eigentliche Auflösung der Serie sowie gleichzeitig der FlashSideWays: Durch ihre enge Verbundenheit haben sich die Losties der ersten Staffel eine Art Vorhimmel geschaffen, in dessen Rahmen sie nach ihrem Tod verweilen, bis jeder der Gruppe eingetroffen ist – anschließend treten sie gemeinsam ihre letzte Reise an. Die FlashSideWays waren demnach nicht alternativ, sondern in der Zeit nur später angesetzt. So sahen die Zuschauer auch Hurley, der nach Jacks Tod das Amt des Beschützers einnahm und vermutlich noch über Dekaden in diesem waltete.


Möchte man mit sich und «Lost» ins Reine, so muss man seine Schlüsse aus dem Finale ziehen. Dass es keinerlei durchstrukturierten Plan gab, dürfte deutlich geworden sein. Ob man nun bereits 2004 vorhatte, die Serie mit Jacks geschlossenem Auge enden zu lassen, steht dabei nicht im Mittelpunkt. Vielmehr die gezwungenermaßen ultimativen Antworten von Vorhimmel und Lichtquelle. Dabei muss auf das vorsätzlich gewählte Zitat zu Beginn dieses Artikels verwießen werden, das als perfektes Sinnbild für die Situation zwischen Zuschauer und Autor dient.

1. Der Vorhimmel: Eine zweifellos dilettantische Erfindung, die ohne großen Sinn sechs Jahre «Lost» weniger wichtig erscheinen lässt.

2. Die FlashSideWays: Ein Lückenfüller, der einerseits sechzehn Episoden der Staffel das Tempo nahm und andererseits in feiner «Dragonball Z»-Manier die Liebe zum einhelligen Konsens der Figuren macht.

3. Die Lichtquelle: Das Abziehbild einer wahren Erklärung, das die Frage in den Raum stellt, weshalb Jacob ganze sechs Jahre wartete, um einen Nachfolger zu bestimmen, anstatt den in Season eins zu 100 Prozent von der Insel überzeugten Locke antreten zu lassen..

Desmond nimmt die Rolle der Autoren ein, die auf die Schnelle versuchen, ihr Konstrukt mit reinem Mehrwert zu verteidigen, während es Jack kurz auf den Punkt bringt. Was in sechs Jahren «Lost» geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mit nichtigen und einfallslosen Antworten abgespeist werden. Nur wenige der Zuschauer geben sich deshalb zufrieden mit der Retrospektive auf das große Mysteryabenteuer. Walt und Aaron wurden in den ersten Seasons zu Wunderkindern erkoren, bevor sie in der Versenkung verschwanden. Der Krieg zwischen Widmore und Ben wurde bis zur Vergeltung gepusht und erfuhr schließllich weder Aufklärung, noch Lösung. Nicht zu sprechen von den Zahlen, die man tatsächlich schlicht mit einer undefinierbaren Magie beschreiben hätte können, statt sie zu den Zahlen an Jacobs Höhlenwänden zu machen – so verliert die Gravierung an der Luke an Halt, um nur ein Beispiel zu nennen. Fest steht: «Lost» hat bewegt – und das auf mehr als eine Weise. Ob man mit der Serie nun seinen Frieden geschlossen hat oder nicht, Cuse und Lindelof haben es laut eigener Aussage. Mehr scheint zumindest für diese nicht zu zählen.

Dieser Artikel erschien bei Quotenmeter.de erstmals nach dem Ende der FOX-Ausstrahlung im Pay-TV im Juli 2010.
19.11.2010 07:30 Uhr  •  Marco Croner Kurz-URL: qmde.de/43084