Der schizophrene Goldjunge

Die 83. Academy Awards: Evolution und klischeehafte Entscheidungen bestimmen die Nominierungen für den diesjährigen Oscar.

Am Dienstagnachmittag wurden die Nominierungen für die 83. Academy Awards bekannt gegeben. David Finchers den Zeitgeist einfangendes Drama «The Social Network» über die Gründung Facebooks erhielt acht Nominierungen, ebenso wie Christopher Nolans intelligenter Thriller «Inception». Aber es sind nicht die dominantesten Filme: Rein quantitativ obsiegen das Western-Remake «True Grit» von Ethan & Joel Coen («No Country for Old Men») mit 10 Nennungen sowie «The King‘s Speech». Das britische Historiendrama über den stotternden König George VI., seine Sprachtherapie und deren Folgen machte das Dutzend an Nominierungen voll.

Somit kündigte sich gestern für den 27. Februar eine schizophrene Oscar-Nacht an. Einerseits zeigt sich Hollywoods berühmtester Filmpreis von einer jungen, feschen Seite. Die multitalentierten Schauspieler Anne Hathaway und James Franco sollen als Moderationspaar nach jüngeren Zuschauern fischen. «Toy Story 3» darf als zweiter Computeranimationsfilm auf den Preis für den besten Film hoffen. Mit «The Social Network» ist ein Film Spitzenfavorit, dessen Internet-Thematik manche der älteren Academy-Mitglieder kaum verstehen. Und Komponist John Powell («Face/Off», «Shrek») erhielt für «Drachenzähmen leicht gemacht» endlich seine erste Oscar-Nominierung, nachdem er über fünfzehn Jahre lang im Schatten seiner Mentoren Hans Zimmer und Harry Gregson-Williams verbrachte. Unter den nominierten Dokumentationen befindet sich derweil «Banksy - Exit through the Gift Shop», ein Hipper sowie satirischer Blick auf das Schaffen eines Londoner Straßenkünstlers, der erst kürzlich wegen seines zynischen Gast-Vorspanns für «Die Simpsons» in die Schlagzeilen kam.

Andererseits zieht sich der Goldjunge in seine Komfortzone zurück, scheint alte Vorurteile über ihn zu bestätigen. Die Nominierungen werden von einem Royaldrama mit angeschnittener Weltkriegsthematik angeführt. Der umfeierte «Black Swan» wird mit passablen fünf Nominierungen abgespeist, denn von gelegentlichen Sensationsausreißern wie «Der Exorzist» oder «Das Schweigen der Lämmer» abgesehen, werden Horrorfilme/Psychothriller bei den Academy Awards klein gehalten. Und insbesondere Blockbuster haben es im Jahr 1 nach «Avatar» schwer: Christopher Nolan wurde für seine sensationelle Regieleistung in «Inception» vollkommen übergangen. Erfahrungsgemäß dürfen alle, die «Inception» als Gewinner des Oscars für den besten Film sehen wollen, bereits jetzt sämtliche Hoffnung begraben. Auch das verhältnismäßig erfolgreiche Thrillerdrama «The Town» von Ben Affleck sollte für Überraschungen gesorgt haben. Viele Oscar-Experten waren überzeugt, dass die Kriminalgeschichte einige Nominierungen, darunter für den besten Film, abstauben wird. Die Realität hingegen sieht anders aus, nur Jeremy Renner kann als bester Nebendarsteller weiter vom Oscargold träumen.

Und John Powells Nominierung zum Trotz, auch musikalisch wildert die Academy in der Kiste für unwillkommene Klischees: Randy Newman wurde für sein langweiliges und charakterloses Liedchen «We Belong Together» nominiert, das so ziemlich zum letzten gehört, woran man sich aus «Toy Story 3» erinnert. Newman hat eingefleischten Anhänger unter den Oscar-Wählern, er wurde allein in dieser Kategorie zwölf Mal nominiert, vollkommen gleich ob Standardgeklimper oder Karrierehoch. Das französische Elektro-Duo Daft Punk hingegen ging für seinen kommerziell äußerst erfolgreichen und auch von vielen Kritikern aufgrund seiner dynamischen Klanggewalt gelobten Score zu «Tron: Legacy» leer aus. «Tron: Legacy» ist aus rein technischer Sicht eh der Verlierer des Jahres: Trotz massenhaft Lob für sein Design, seine Effekte und sein Klangbett, erhielt der Sci-Fi-Film nur eine einzige Nominierung, und zwar für die beste Soundbearbeitung. Dass er keine Drehbuch-Nominierung erhielt, sollte dagegen niemanden überraschen.

Der zurück gewonnene Konservativismus der Oscar-Nominierungen offenbart sich vor allem in den technischen Kategorien. Letztes Jahr erhielt unter anderem die digitale Kameraarbeit in «Avatar» die begehrte Statuette, dieses Jahr hingegen bleibt das Feld weitestgehend klassisch. Edgar Wrights knallige Comicadaption «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt» erwartete natürlich niemand unter den zehn “Bester Film”-Nominierten, aber seine ungewöhnliche und effektvolle Schnittarbeit hätte definitiv mit einer Oscar-Nominierung belohnt werden müssen. Und auch in der Kategorie für visuelle Effekte wird der innovative Comic/Retrovideospiel-Look von «Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt» jäh vermisst. War diese Effektgestaltung zu jugendlich orientiert?

Ja, im Detail zeigen sich die Nominierungen für die 83. Academy Awards schizophren. Im Gesamtblick sollte dies kaum überraschen. In Wahrheit ist es doch eh jedes Jahr das selbe: Der passionierte Filmfreund rechnet damit, dass bei den Oscar-Nominierungen große und freudige Überraschungen passieren. Und dann werden gelegentliche, kleinere positive Schocker von sehr viel Gewohnheit überlagert. Sowie von der gelegentlichen Enttäuschung. «Inception» ist kein Schauspielerfilm, und somit kein typisches Oscarmaterial. Das waren «Titanic» und «Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des Königs» auch nicht, aber sie waren noch erfolgreicher als Christopher Nolans Blockbuster und technische Wunderwerke. «Inception» hingegen ist technisch makellos ohne in vielen Bereichen neue Maßstäbe zu setzen. Das entschuldigt nicht, dass Nolan übergangen wurde. Allerdings ist es als schmerzlindernde Erklärung dienlich: «Inception» ist ein sehr guter Film. Nur kein Film, der ins Schema der Academy passt. Und damit wäre bereits der publikumsträchtige Schrecken der Nominierungsliste abgehakt. Die restlichen Wunden heilen mit der Zeit. Spätestens am 27. Februar beschwert sich niemand mehr über die Nominierungen. Dann beginnt das Jubeln und Klagen über die Oscar-Gewinner.
26.01.2011 07:30 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/47300