Beim Fernsehen unterfordern wir uns selbst
Unser Kolumnist über Vorurteile und die angebliche Unterschicht.
Vorurteile. Wir alle haben sie, und wurden auch schon oft selbst Opfer von ihnen. Es ist beispielsweise nahezu unmöglich, einen Musikgeschmack zu besitzen, mit dem man nirgends aneckt. Schon in den 90er Jahren erntete man schiefe Blicke, wenn man sich als Fan der Backstreet Boys oder der Kelly Family outete. Und noch vor einigen Jahren war es ein absolutes No-Go, sich für Tokio Hotel zu begeistern. Doch nicht nur bestimmte Interpreten verursachen Schubladendenken, sondern ganze Genres. Indierock-Fans sind zwanghaft alternativ, und tragen lange Haare und Vollbärte, um sich vom gängigen Schönheitsideal der Metrosexualität abzugrenzen. Im Gegensatz zu den Techno- und House-Hörern, die sich automatisch durch ihren Musikgeschmack als David Guetta-Jünger disqualifizieren, weil "elektronische Musik" gar keine richtige Musik ist. Wer Hiphop hört, ist zweifellos ein minderbemittelter Asi mit Hauptschulabschluss, der die deutsche Sprache mit Sätzen wie "Geh isch ALDI" vergewaltigt. Ganz schlecht ist nach wie vor auch der Ruf des deutschen Schlagers. Kaum jemand unter 40 wagt es, sich in der Öffentlichkeit dazu bekennen, dass er gerne Helene Fischer und Jürgen Drews hört, weil er sich dadurch als konservativer Spießer outen würde. Am schlimmsten sind jedoch die Mainstream-Anhänger, die alles aufsaugen, was in den Top 10 gerade angesagt ist, und ihren Musikgeschmack immer brav dem aktuellen Trend anpassen. Ganz gefährlich leben hier aktuell die Fans von Justin Bieber, dem aktuellen Hassobjekt der anspruchsvollen Elite.
Analog verhält es sich mit dem Fernsehen. RTL ist mit weitem Vorsprung der Sender, den die Zuschauer am häufigsten einschalten. Gleichzeitig genießt der Kanal, der am Nachmittag eine Scripted Reality nach der anderen versendet, und dessen Quotenhits «Deutschland sucht den Superstar», «Schwiegertochter gesucht» und «Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!» heißen, den Ruf des Unterschichtenfernsehens. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, dass angeblich nur Hartz IV-Empfänger und faule Hausfrauen zu den Zuschauern dieser Formate zählen. Wer sich dazu bekennt, beweist viel Mut - ebenso die völlig naiven Heile-Welt-Fanatiker von Telenovelas und Rosamunde Pilcher-Verfilmungen. Den schlechtesten Ruf genießt aber nach wie vor «Big Brother». Die Reality-Show besitzt immer noch eine riesige Fangemeinde im Internet, die zu jeder Staffel aufs Neue sehr aktiv in Foren und Gästebüchern schreibt. Doch kaum jemand würde sich im sogenannten "Real Life" trauen, sich als Fan zu outen. Zu groß ist die Angst vor Ablehnung, Häme und Spott. Dabei beweisen zahlreiche detaillierte Zuschaueranalysen, dass das Vorurteil des Unterschichtenfernsehens mitnichten stimmt.
Im Gegenteil, nahezu alle angeführten Sendungen haben eine sehr breite Zuschauerverteilung, die sich durch beide Geschlechter und alle Alters- und Gesellschaftsschichten zieht. Gerade angebliche Schundformate wie «Big Brother» oder das Dschungelcamp ziehen das Interesse von Abiturienten und Akademikern auf sich. Mit großer Verblüffung müssen Feuilletonisten anerkennen, dass es die selben Frauen sind, die in der S-Bahn Meisterwerke der deutschen Literatur von Brecht und Goethe lesen, und sich abends mit ihren Freundinnen zum gemeinsamen «Germany's Next Topmodel»-Schauen treffen. Genauso gibt es Menschen, die an einem Abend 3sat und RTL II schauen. Das Schubladendenken funktioniert einfach nicht. Und gerade beim Fernsehen neigen wir dazu, unter unser eigenes Niveau zu fallen. Während wir im Alltag viel schneller Dinge ignorieren und ablehnen, weil sie unseren Ansprüchen nicht genügen, lassen wir uns von diesem Medium allzu gerne mit belanglosen Inhalten berieseln. Für viele Leute ist das Fernsehen der notwendige Ausgleich zu ihrem anstrengenden Berufsleben, deshalb wollen sie sich nicht auch noch an ihrem Feierabend mit komplizierten und anspruchsvollen Inhalten auseinandersetzen. Und daran ist nun wirklich nichts Verwerfliches.