360 Grad: Here We Go Again
Wie hat sich die Premiere von «Unser Star für Baku» bei ProSieben mit Thomas D. als Jury-Präsident geschlagen? Julian Miller kommentiert.
Läge der Vorentscheid zum «Eurovision Song Contest» in diesem Jahr in Dieter Bohlens Händen, würde er wohl alle Hebel in Bewegung setzen, um recht zügig eine klare Bewerbungsausschreibung zu veröffentlichen: Suche etwa 20-jährige Sängerin mit schulterlangem, schwarzen Haar, britischem Akzent, einer musikalischen Vorliebe für Kate Nash und Paolo Nutini und Knuddelfaktor. Bruce Darnell würde dann dafür sorgen, dass bei derjenigen, die man da so finden würde, die Handtasche auch schön lebendig ist, und ab ging's in den Flieger nach Baku. Mit Kai Diekmann als (metaphorischem) Co-Pilot.
Thomas D. und Stefan Raab gehen die Sache anders an. Wenn schon Reboot, dann richtig. Anders als viele zunächst befürchtet haben, hat «Unser Star für Baku» nichts mit der Suche nach einem Lena-Klon zu tun, und man lässt der bereits etablierten Künstlerin ihre Eigenständigkeit, die man nicht durch die Jagd nach einem billigen Imitat zu verwässern wagt. Das ist auch der einzig richtige Ansatz. Denn das Problem bei einer anderen Herangehensweise wäre nicht nur, dass das Lena Meyer-Landrut als Künstlerin herabwürdigen würde, sondern auch dass wegen ihrer ungebrochenen Authentizität einen direkten Vergleich mit ihr niemand gewinnen könnte, der schlicht darauf aus wäre, in die selbe Kerbe zu schlagen, um schnell mal ein paar Platten abzusetzen. Bei der Suche nach einem neuen Talent, das uns in Baku würdig vertreten soll, ist also von Anfang an darauf zu achten, sich nicht allein am Bewährten festzuklammern und nach einer billigen Ersatz-Lena zu jagen – es geht um die Suche nach einem individuellen Künstler, der sein eigenes Ding durchziehen und die Herzen Europas gewinnen soll. Gut also, dass sich unter den ersten zehn Kandidaten mehrheitlich Bewerber mit Ecken und Kanten und einem eigenen Stil befinden.
Eines der Highlights des Abends war sicherlich der Auftritt von Shelly Phillips, die sich mit einer schönen, stilistisch sehr amerikanischen Interpretation von „Valerie“ zeitweise an die Spitze der Blitztabelle katapultieren konnte. Die Reaktionen von Stefan Raab („Das ist Kunst, das ist nicht nur Ich-sing-ein-Lied-nach“) und Thomas D. („A Star is Born“) waren jedenfalls eindeutig. Sehr faszinierend klang auch Roman Lob mit dem Song „After Tonight“, der seine große versierte Stimme gekonnt in Szene setzen konnte und ihn binnen Minuten zum Publikumsliebling machte. Die Juroren applaudierten stehend.
Zu Unrecht ausgeschieden ist vielleicht Jil Rock, die äußerst kraftvoll, aber (so die Jury) eben wenig individuell „Moves like Jagger“ von Maroon 5 vortrug und nicht nur optisch an eine zehn Jahre jüngere Christina Aguilera erinnerte – ihr stimmliches Talent war jedenfalls erstaunlich.
Ab und an gab es von der Jury auch kritische Meinungen zu hören, wenn die gesanglichen Leistungen nicht (vollends) überzeugen konnten. Doch „Kritik üben“ bedeutet anders als bei «Deutschland sucht den Superstar» hier nicht „beleidigen“, denn keiner der Kandidaten muss sich in irgendeiner Weise herabgewürdigt vorkommen. Und als man sich bei einem der Teilnehmer nicht so ganz sicher war, ob seine Retourkutsche wegen seiner mäßigen Bewertung eher ironischer oder doch ernsthafter Natur war, konnte Sandra Rieß durch ihre kecke und dabei sehr sympathische Art die Situation noch ganz gut retten.
Anders als bei «The Voice of Germany» verzichtet man bei diesem Format gänzlich auf die persönlichen Hintergrundgeschichten. Mehr als Name, Alter, Wohnort, Job/Studium und ein paar Hobbys werden nicht diskutiert, Familie und Freunde bleiben durchgehend off-camera. Auch bei «Unser Star für Baku» mag es zwar nicht ausschließlich um die Stimme gehen (Stefan Raab vertritt diese Meinung ganz offen), doch das Augenmerk liegt auf dem Künstler in seiner Gesamtheit, auf seiner Art und seinem Gestus, und nicht auf seinem Familienleben und seiner tragischen Geschichte, die man beim «Supertalent» dann so kalkuliert, dass bei den Zuschauern möglichst viele Mitleidstränen mitgenommen werden.
Wirklich gefehlt hat in der Premiere von «Unser Star für Baku» eigentlich nur Lena – die echte. Zur Zeit hat sie es mal wieder in die Artikel der Miesmacher geschafft, in denen ihr vorgeworfen wird, sich in ihrer Ausgabe der arte-Reihe «Durch die Nacht mit...» daneben benommen zu haben. Dabei war sie eigentlich nur ganz natürlich, was die entsprechenden Journalisten einmal mehr darin entlarvt, nach „Unverbrauchtheit“ und „Authentizität“ zu schreien, dann aber einen „Star“ zu erwarten, der immer schön brav in die Kamera lächeln und auch noch die bekloppteste Frage durchwinken soll. Vielleicht lernen sie ja in Baku dazu, wenn Stefan Raab einmal mehr klarmachen wird, dass er seinen Protégés keine Boulevardsumpf-Spielchen auferlegt und sie nicht dazu antreibt, immer gut drauf sein zu müssen, nur weil gerade wieder mit einer Kamera auf sie gezielt wird.
Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.