Jörg Wontorra über heutiges TV: ‚Zu durchgestylt, zu gebaut‘
In den 90ern erreichte er mehr als sechs Millionen Menschen mit «Bitte melde dich». Nächste Woche bringt Julia Leischik das Format in ihrer Version zurück. Der heutige «Doppelpass»-Moderator erinnert sich mit uns zurück.
Herr Wontorra, rund sieben Jahre lang haben Sie «Bitte melde dich» moderiert. Wie stark sind Ihre Erinnerungen an die Sendungen noch heute? Gibt es da noch welche?
Da gibt es schon noch einige, ja, vor allem, weil wir mit der Sendung vielen Kindern helfen konnten. Es lag mir immer besonders am Herzen, Kinder und Jugendliche zu finden, die aus den unterschiedlichsten Gründen von zu Hause weg waren. Teilweise waren sie freiwillig abgehauen, haben in einer Phase der Pubertät voreilige Entscheidungen getroffen. Aber es gab auch Mädels, die entführt wurden oder die wir aus dem Milieu herausholen mussten. Ich glaube, drei oder vier junge Frauen haben wir aus einem Bordell geholt. Das war damals für mich eine ganz neue Erfahrung, ich konnte gar nicht glauben, dass diese Schlepperbanden wirklich so agieren.
Die Sendung hatte in den 90ern teilweise mehr als sechs Millionen Zuschauer. Waren Sie davon überrascht?
Ich kam vom Sport – diese Zuschauerzahlen war ich also von der Bundesliga durchaus gewohnt. Der Erfolg von «Bitte melde dich» hat mich aber wirklich überrascht, ja. Ich hatte nicht gedacht, dass Schicksale für andere Menschen so interessant sind. Letztlich haben wir genau das ja dann auch in den Sport mit herübergezogen und versucht, auch Sport emotionaler darzustellen. Wir haben damals gelernt, dass große Gefühle dazu beitragen, dass Menschen fernsehen.
Da setzten die Kritiker an: Die sagten damals, in der Sendung wäre es nicht in erster Linie darum gegangen, Vermisste zu finden; sondern vielmehr darum, mit Emotionen zu spielen…
Ich war Kritik damals eigentlich gar nicht gewohnt. Im Sport wurde ich immer als kompetenter Mann gesehen. Deshalb musste ich mich erst ein wenig darauf einstellen, dass ich auch etwas abbekomme. Ich habe mir sozusagen einen Panzer um mich herum gebaut. Die Kritik war zudem völlig unberechtigt. Jetzt in der Rückschau kann man sagen, dass wir damals das erste Reality-Format im deutschen Fernsehen waren. Und schaut man sich heute im Programm um, dann war «Bitte melde dich» dagegen eher Kindergeburtstag.
Julia Leischik war in den vergangenen Jahren bei RTL auf Vermisstensuche. Haben Sie «Vermisst» angeschaut?
Logischerweise habe ich das allein schon aus Eigeninteresse verfolgt. Ich bin der Sendung «Bitte melde dich» noch heute verbunden. «Vermisst» fand ich teilweise spannend, ich wusste aber sofort, dass der oder die Vermisste am Ende auch wirklich gefunden wird. Das ist ein Happy-End-Format – bei «Bitte melde dich» war es ja stets offen, ob wir den Gesuchten auch wirklich finden. Wir haben damals echte Sorgen und Aufrufe veröffentlicht, das Publikum mit einbezogen. «Vermisst» ist hingegen ein gelebter Spielfilm, bei dem eher nach Drehbuch gearbeitet wird. Der normale Zuschauer findet das bestimmt trotzdem toll. Für mich zeigt es aber einmal mehr, dass Fernsehen sich zurzeit zu sehr in ein steuerbares Medium entwickelt.
In der kommenden Woche belebt Sat.1 dann den Namen «Bitte melde dich» wieder – dann heißt es «Julia Leischik sucht: Bitte melde dich». Gefällt Ihnen das?
Das ist absolut in Ordnung, wenn die Sendung dem Namen auch gerecht wird. Ich wünsche mir, dass Julia Leischik die Zuschauer mehr einbezieht.
Sie sprachen vorhin von einem zu steuerbaren Medium. Wie meinen Sie das?
Das ist mir heute alles zu durchgestylt, zu gebaut, zu berechenbar. Es gibt schlicht keinen Spielraum mehr für Überraschungen. Das ist auch der Grund, warum ich in den USA kein TV schaue. Fernsehen lebt doch von dem Unerwarteten.
Ich komme aus dem Sport, da kann immer alles passieren. Ich habe damals bei «Bitte melde dich» darauf gepocht, immer live zu senden.
Erklären Sie sich so auch den Erfolg von «Aktenzeichen XY»? Eine Sendung, die so gut läuft wie lange nicht – und die eben keine Happy-End-Garantie hat?
Kurze Antwort: Ja. Ein weiterer Faktor ist auch Rudi Cerne, der das Format großartig moderiert.
Ende der 90er war dann Schluss mit «Bitte melde dich» – Ist es falsch, wenn ich sage, dass das für Sie nicht so schlimm war, weil Sie weiter mit Fußball sehr gut beschäftigt waren?
Das stimmt. Für mich war das eine gute Entscheidung, aber auch eine Zäsur im Leben. Ich hatte immer gesagt, dass ich mit 50 gerne aufhören würde, zweigleisig zu fahren. Ich wollte mich dann auf das konzentrieren, was mir mehr Spaß macht. Ich habe mich dann damals für den Sport entschieden – und auch ein bisschen Glück gehabt. Reinhold Beckmann ging zum Ersten, weshalb ich in Sat.1 zum Sportgesicht wurde.
Dem Sport sind Sie auch heute noch treu – der «Doppelpass» läuft ab diesem Wochenende wieder mit Ihnen bei Sport1. Regelmäßig holt die Sendung in der normalen Zielgruppe zehn Prozent oder mehr, teilweise schauen 1,3 Millionen Menschen am Sonntagmittag zu. Wie erklären Sie sich die immer weiter wachsende Fangemeinde?
Das liegt zum einen daran, dass wir immer live sind. Bei uns passiert etwas, die Sendung ist nicht ausrechenbar. Wir versuchen in dem Format zudem Hintergründe aufzuhellen. Wir wollen die Fans mitnehmen in die Kabinen der Spieler. Dabei ist es uns aber wichtig, das Ganze unterhaltsam darzustellen. Wir wollen keine Fachshow sein. Den «Doppelpass» schauen immer mehr Frauen – und die haben schlicht kein Interesse daran, wenn wir zum elften Mal erklären, wieso die eine Flanke falsch geschlagen wurde. Der «Doppelpass» verbindet beides – die Sportkompetenz in der Runde und die Entertainment-Effekte.
Dass Sie keine Fachshow sein wollen, haben Sie damit jetzt auf «Sky 90» abgezielt?
Bei Sky ist dieses Talkformat total richtig positioniert. Da schaut reines Fachpublikum zu. Wir haben eine vollkommen andere Aufgabe. Wir gehen über den harten Kern, den wir natürlich auch haben, hinaus, hin bis an den Rand. Wir haben die Quote innerhalb von sieben Jahren verdoppelt. Ich denke das zeigt, dass das Team wirklich gute Arbeit macht.
Wie bereiten Sie sich auf die Sendung vor?
Von Montag bis Freitag ist das ein intensives Studium der Zeitungen und Recherche im Internet. Das alles versuche ich dann zu speichern. Am Samstag beginnt die Arbeit eigentlich um 17.20 Uhr - also nach dem Schlusspfiff der Nachmittagsspiele. Da wird dann die Sendung gebaut. Nach der Planung, das ist gegen 20.15 Uhr, wenn auch das Abendspiel vorbei ist, gehe ich in mein stilles Kämmerchen und bereite die genauen Fragen vor.
Gibt es einen Wunschgast für den «Doppelpass»?
Das Schöne ist, dass ich sie alle gehabt habe. Boris Becker, Harald Schmidt, Udo Jürgens. Das ist toll, weil es eine Anerkennung unserer Arbeit ist. Aber einen Wunschgast gibt es doch: Meinen Feind/Freund Otto Rehhagel. Das wäre jetzt eigentlich noch einmal einen Versuch wert. Er hat immer gesagt: Zu einem Stammtisch geht er nicht – vor allem nicht, solange Udo Lattek dabei ist. Die beiden konnten ja bis zu ihrer Versöhnung beim 60. Geburtstag von Uli Hoeneß nicht miteinander
Na, es wäre ja auch langweilig, wenn Sie gar keine Wünsche mehr hätten. Vielen Dank für das Interview, Herr Wontorra.