Popcorn und Rollenwechsel: Stumme Magie
Zum Kinostart von «The Artist» stellt sich unser Filmkolumnist die Frage, ob das heutige Kino nicht zu redselig geworden ist.
Film ist zwar ein visuelles Medium. Doch seit die Bilder nicht nur das Laufen, sondern auch das Sprechen gelernt haben, wird es zunehmend schwerer, sie dazu zu bringen, auch Mal die Klappe zu halten. Generell erkenne ich nicht, was an diesem „Radio mit Bildern“ auszusetzen wäre. Zwei meiner liebsten Drehbuchautoren sind Quentin Tarantino und Kevin Smith. Für Filmemacher ist es schon schwer, geschwätziger zu sein, als diese beiden.
Dennoch muss man sie wertschätzen, jene Filme, die sich auf die ursprünglichen Reize ihrer Kunstform konzentrieren. Filme, die zeigen, statt zu erzählen. «Tree of Life» gewann vergangenes Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes nicht zuletzt auch deswegen, weil Terence Malicks Mammutwerk vieles über seine Bildgewalt aussagte. Dass es einer der schönsten Filme der vergangenen Jahre ist, gestehen ihm konsequenterweise auch all jene zu, die ihn für eine prätentiöse Luftblase von einem Film halten. Weniger selbstverliebt, aber ebenfalls eine moderne Kinoproduktion weniger Worte, ist Pixars «WALL•E». Dieser verzichtet für lange Strecken auf Dialog, und mehr als ein paar Wörter bringen die beiden Protagonisten den gesamten Film über nicht raus. Und dennoch gelingt es Regisseur und Autor Andrew Stanton auf meisterliche Weise, die Gefühle seiner beiden sich ineinander verliebenden Roboter zu vermitteln.
Der umjubelte, 2011 produzierte Stummfilm «The Artist», der diese Woche endlich auch in Deutschland startet, zeigt eine überraschende Parallele zur Sci-Fi-Roboter-Romanze aus den Pixar Studios. Vielleicht werden mir einige Kinogänger darin widersprechen, doch sowohl in «WALL•E», als auch in «The Artist» lässt sich der Liebesgeschichte viel inniglicher hinfiebern. Sie sind deutlich gefühlvoller und somit einvernehmender, als bei nahezu allen Romanzen und Romantikkomödien der letzten zehn oder zwölf Jahre. Einiges ist der Darstellung, beziehungsweise Animation, der beiden Verliebten und auch dem nicht von den üblichen Klischees überfrachteten Handlungsablauf zu verdanken. Doch es liegt zu einem Teil auch daran, dass die Figuren in diesen Filmen schweigen. Sie können keinen Schwachsinn reden, sie vermitteln ihre Liebe nur mit Blicken und Gesten. Dadurch wird diese Leinwandromanze reiner, sie entwickelt eine größere Magie.
Ich möchte jetzt natürlich nicht sämtlichen Filmen mit einer zentralen Liebesgeschichte ein absolutes Redeverbot erteilen. Jedoch zeigen die wortkargen, jüngeren Produktionen wie nun einmal «WALL•E», dass viele Filmautoren verlernt haben, das Schweigen angemessen zu nutzen. Oft quatschen sich Filme um Kopf und Kragen, und gerade in Liebesdingen ist das extrem auffällig. Wenn es offensichtlich ist, dass beide Hälften eines Liebespaares endlich mit offenen Augen dastehen, und sich einander gefunden haben, wirklich nichts mehr der Beziehung im Weg steht ... Wer will dann noch einen ellenlangen Monolog der männlichen Hauptfigur über Gott und die Welt hören?
Doch zumindest in einem Genre verzichtet man im Regelfall auf unnötige Dialoge. Es ist vielleicht eine gewagte These, aber der Actionfilm lässt sich tatsächlich als eine der letzten Hochburgen der vornehmlich visuellen Erzählweise betrachten. Gewissermaßen hält ausgerechnet diese Filmsparte, die regelmäßig für ihren mangelnden Anspruch niedergemacht wird, einen der wichtigsten Stützpfeiler der Filmkunst aufrecht. Paradox, nicht wahr?
Ich möchte keinesfalls jeden dahergelaufenen Actioner auf die selbe Stufe stellen, auf der sich solche kunstvolleren Projekte wie «The Artist» befinden. Selbstredend ist es eine enorme, handwerkliche und künstlerische Leistung, in Form eines Stummfilms eine simple, melodramatische und dennoch witzige Liebesgeschichte zu erzählen, welche nebenher eine Hommage an eine totgeglaubte Kunstform darstellt. Dagegen ist es gewiss durchaus einfacher, mittels weniger, dafür häufig sehr flacher, Dialoge die Geschichte eines versoffenen Ex-Cops zu erzählen, der mit einem kleinen Revolver die Welt rettet. Ohne auch nur einmal nachzuladen.
Dennoch muss man den visuell versierteren unter den Actionregisseuren für das, was sie tun, etwas mehr Respekt zollen. So hohl viele Cineasten deren Filme auch finden mögen, so tummeln sich im Actiongenre einige wahre Bildvirtuosen und Regisseure, die mit einem Bild Dinge auszudrücken vermögen, für die manch andere ausführliche Dialogsequenzen benötigen. Selbst Michael Bay, der in seinen vergangenen Filmen vieles in einem Schnittgewitter untergehen ließ und bei den Nahaufnahmen einfach viel zu nah auf seine überdimensionalen Alien-Roboter draufhält, ist durchaus talentiert darin, aussagekräftige Bilder zu erschaffen.
Um nur ein Beispiel rauszupicken, das wohl jeder kennt, der auch nur jemals einen von Bays Filmen bewusst gesehen hat: Weitwinkelaufnahme. Sonnenuntergang. In Zeitlupe steigt ein in schwarzem Ledermantel gekleideter Kerl mit Sonnebrille aus einem Hubschrauber aus. Und sofort wissen die Zuschauer: Mit diesem Kerl ist nicht gut Kirschen essen. Er ist ein richtig harter Typ, der weiß, was zu tun ist. Nicht eine Dialogzeile musste verschwendet werden, um uns dies zu erklären. In einem Durchschnittsdrama hätten uns drei, vier Figuren versichern müssen, dass der neu ins Team dazu gestoßene Mann ein wahrer Experte in seinem Fach ist und dieses sowie jenes locker erledigt hätte.
Allein das Bild sämtliche Informationen liefern zu lassen. Das trauen sich selbstredend noch viele Kunstfilme oder sehr anspruchsvolle Dramen zu. Aber im publikumsträchtigeren Bereich wird diese Erzählkunst zunehmend auf den Actionfilm beschränkt, während es vor mehreren Jahrzehnten noch für das gesamte Spektrum der filmischen Unterhaltung gang und gäbe war. Der Dialog regiert unser heutiges Kino. Auf jede visuell arbeitende Komödie kommen mindestens drei oder vier dialoglastige Komödien. Die Academy of Motion Picture Arts & Sciences würdigt hauptsächlich mit intelligenten Dialogen ausgestattete Dramen wie «The King's Speech» für ihre Drehbücher. Dabei besteht ein gutes Drehbuch nicht nur aus cleveren Wortkonstruktionen, sondern auch aus einer guten Dramaturgie, denkwürdigen Einzelszenen sowie einer schönen Geschichte. Und selbst unsere Fantasyfilme haben angefangen, die in ihnen pulsierende Magie verbal zu erörtern. Selbst die besten unter ihnen. Actionfilme dagegen sind natürlich nicht völlig frei von diesem Fehler, doch sie quatschen sich selbst viel seltener zu Tode.
Niemand möchte den Tonfilm aufgeben. Trotzdem bleibt es eine faszinierende Kunst, wenn ein Film trotz weniger Worte völlig verständlich, einvernehmend und denkwürdig ist. Im Actionfilm haben wir einen Funken dieser alten Magie. Deswegen brennen sich solche Bilder wie die langsam gen Kamera schreitenden, in orangefarbenen Raumanzügen gekleideten Erdenretter aus «Armageddon» oder der sich vor einer Pistolenkugel duckende Neo aus «Matrix» ins kollektive Gedächtnis.
Viele der von Filmliebhabern heute als Kulturgut behüteten Stummfilme waren zu ihrer Zeit auch nichts weiteres, als Unterhaltungskino, das von Kulturwächtern verachtet wurde. Heute erkennen wir die mühevolle Arbeit in ihnen. Darüber sollte man vielleicht nachdenken, wenn man über Actionfilme mit ihren pathetischen Bildern lacht. Nicht jeder von ihnen ist ein Kunstwerk, aber nicht jedes Kunstwerk braucht eine intelligente sowie redselige Geschichte, um zu begeistern.