«Schlüter sieht's»: Eine politische EM?
Die Fußball-EM wird ein Spaß-Event – sie muss aber auch auf Missstände aufmerksam machen. Ein Kommentar.
Ob die Einwohner von Usedom ihre Heimat ab Juni als „EM-Insel“ bezeichnen werden? Passen würde dieser Titel zumindest, denn das ZDF veranstaltet auf der Heringsdorfer Seebrücke wieder ein Open-Air-Festival für die Europameisterschaft 2012, und fußballbegeisterte Fans und Ostsee-Urlauber sind herzlich eingeladen, dem Fest auf Usedom beizuwohnen. Ein ähnliches Konzept verfolgte das ZDF bereits 2008, als die Berichterstattung auf der Bregenzer Seebühne stattfand und eine hervorragende Kulisse für das Fußballturnier bot.
Diese Kulisse war wohl die schönste, die es je in der Fußball-Berichterstattung gegeben hat – und zudem drückte sie sinnbildlich die Entwicklung des Fußballsports aus, die dieser in den vergangenen Jahren genommen hat: Die großen Sommer-Turniere begeistern mittlerweile einen Großteil der deutschen Bevölkerung – neben Millionen von Fußballfans, die zuhause vor den eigenen Fernsehern die Spiele verfolgen, strömen weitere Millionen auf die mittlerweile zahlreichen großen Public-Viewing-Veranstaltungen, bei denen die Leidenschaft für den Sport kollektiv ge- und erlebt wird.
Dieses Phänomen mag man leicht unter dem Stichwort „Eventkultur“ abstempeln. Aber was ist daran verwerflich? Das Public Viewing ist eine zusätzliche Alternative zum Erleben des Sports – und hat die großen Fußball-Turniere zu gesellschaftlichen Ereignissen gemacht, die relevanter sind als je zuvor. Umso wichtiger wäre es neben all dem Spaß, auch die dunklen Seiten eines solchen Events zu beleuchten: wie beispielsweise die Methode in der Ukraine, vor der EM tausende Straßenhunde töten zu lassen und so die Städte zu „säubern“. Zuletzt trat Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko in einen Hungerstreik, um auf die gewaltsamen Bedingungen aufmerksam zu machen, unter denen sie bei ihrer Haftstrafe zu leiden hat. Dagegen wird erwartet, dass Präsident Wiktor Janukowitsch die EM für seine Zwecke instrumentalisiert und die Kritik im Zuge der Fußballbegeisterung verschwindet.
Die UEFA selbst plant nicht, in großem Stil auf die Missstände im EM-Land Ukraine aufmerksam zu machen. UEFA-Chef Michel Platini dazu: „Die UEFA ist keine politische Institution und wird nie eine sein.” Umso mehr sind die Medien gefragt – WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn verspricht: „Wir stehen vor der politischsten EM überhaupt. Davor können wir unsere Augen nicht verschließen.“ Auch das ZDF hat eine kritische Berichterstattung angekündigt. Richtig so: Denn der Fußball hat – mit all seiner Reichweite, mit all seiner Relevanz – geradezu eine Verantwortung, sich nicht isoliert als reines Unterhaltungs-Event zu betrachten. Dass die UEFA sich dazu nicht in der Lage sieht, ist feige und unwürdig. Umso wichtiger ist es, dass ARD und ZDF mutig berichten – und dies vielleicht auch im direkten Sendeumfeld der Live-Spiele.
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