360 Grad: Don't Lose Your Voice
In den USA will man die dritte Staffel von «The Voice» schon im Herbst senden. Doch anderswo droht der Overkill.
Vor etwa zehn Jahren war es «Pop Idol», das von Großbritannien aus die Welt eroberte - die Suche nach einem Superstar in einer Sendung, die – so zumindest Chefjuror Simon Cowell – für die Zuschauer einen Blick hinter die Kulissen des brutalen Musikgeschäfts und für die Teilnehmer die Chance auf eine Abkürzung zu Reichtum und Ruhm, vorbei an jahrelangen Auftritten in heruntergekommenen Bumslokalen und zähen Verhandlungen um für die Künstler wenig profitable Plattenverträge, bieten sollte. Von der Insel aus eroberte das Format schnell die ganze Welt: Die USA, Lateinamerika, Deutschland, Frankreich, Australien – sogar nach Kasachstan und Nigeria konnte man das Konzept verkaufen.
Heute ist es «The Voice», das Stück für Stück die Welt der Fernsehunterhaltung zu erobern scheint. Angefangen hat die Erfolgsgeschichte 2010 in den Niederlanden. Letztes Jahr adaptierte NBC das Konzept für den amerikanischen Markt, bleib dabei aber verhältnismäßig vorsichtig, da man die Sendung im Sommer weit weg von der möglichen «American Idol»-Konkurrenz programmierte und außerdem eine deutlich kürzere erste Staffel produzierte als dies in Holland der Fall gewesen war. Doch der Erfolg in Amerika hat wohl auch die größten Optimisten überrascht und brachte das Network nahezu im Alleingang aus der jahrelangen Quotenkrise. Schnell bestellte man eine zweite Staffel, die man nun nicht mehr so gestaucht produzierte wie die erste.
Nach Amerika folgte der Rest der Welt: die Ukraine, Belgien, Polen, Mexico, Portugal, schließlich Ende November letzten Jahres auch Deutschland. Darauf folgten neben kleineren Ländern noch die wichtigen Märkte Süd-Korea und Frankreich, sowie jüngst das Vereinigte Königreich und Australien. Für den Herbst sind ferner Adaptionen in der Schweiz, Spanien und Brasilien angekündigt.
Vielleicht macht «The Voice» letzten Endes nur eine Sache anders als die Formate des «Idol»-Franchises: Denn es nimmt, anders als man bei Simon Cowell den Eindruck hat, nicht den Rohdiamant eines etwaigen Vermarktungsprodukts als Ausgangsposition, sondern den Künstler, und erlaubt ihm, sich in der Sendung zu präsentieren und mit der Hilfe der Coaches an seinem Talent zu arbeiten, anstatt sich von Dieter Bohlen anhören zu müssen, dass der Auftritt entweder „hammergeil“ oder „megascheiße“ war. Vielleicht liegt hier, sicherlich neben der Casting-Übersättigung und der mit neun Staffeln nun wirklich langen Laufzeit, auch ein Grund des langsamen aber sicheren Niedergangs von «Deutschland sucht den Superstar», den man mit «American Idol» zwar deutlich abgeschwächt aber zumindest tendenziell auch auf der anderen Seite des Atlantiks verfolgen kann: Seit «The Voice» wissen die Zuschauer, dass es auch anders geht. Dass man nicht unbedingt vor dem Castingzimmer Würde und Selbstwertgefühl abgeben, dass man sich nicht unbedingt von Dieter Bohlen und Bruce Darnell menschlich, stylisch oder sonst-wie zum Zweck der perfekt durchkalkulierten Massenvermarktung formen lassen muss.
Doch die Zeichen stehen auf Overkill. Nicht nur in Deutschland standen uns diese Saison mit «Deutschland sucht den Superstar», «The Voice of Germany», «The Winner is», «Unser Star für Baku», «Das Supertalent», «X Factor» und der bald startenden neuen Staffel von «Popstars» allein sieben Castingshows ins Haus, die alle, wenn manche von ihnen auch eher nur am Rande, etwas mit Musik zu tun hatten.
In Amerika ging am 8. Mai bereits die zweite Staffel von «The Voice» zu Ende. Die Scouting-Touren quer durch die USA für eine dritte Staffel, die man im Herbst senden will, sind unterdessen schon abgeschlossen und die Aufzeichnungen werden in Kürze beginnen. In Australien kündigte man derweil bereits knapp zwei Wochen nach der Ausstrahlung der Premierenfolge eine zweite Staffel an. Auch in Deutschland laufen bereits die Castings für die nächste Saison, die im Herbst starten soll.
Natürlich wäre es der falsche Weg, Proletenformaten wie «Deutschland sucht den Superstar» das Feld zu überlassen. Somit muss «The Voice» selbstverständlich eine gewisse Präsenz haben. Doch der «Voice»-Overkill, den man in vielen Ländern erkennen kann, die das Franchise ausstrahlen, lässt einen skeptisch werden. Schließlich würde damit nicht zum ersten Mal ein an sich gutes Format totgeritten werden. Hoffentlich wird die deutlich bessere Stimme nicht allzu schnell heiser.
Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.