«Schlüter sieht's»: Identitätskrise?

Im digitalen Zeitalter muss sich das Fernsehen großer Konkurrenz stellen – und übersieht die Gefahren.

Es war eine Statistik, die kaum zur Kenntnis genommen wurde, obwohl sie eigentlich überraschte: Im ersten Quartal 2012 sank die durchschnittliche Fernsehnutzung erstmals nach Jahren kontinuierlichen Anstiegs und ständig neuen Rekorden. Die AGF/GfK-Fernsehforschung errechnete einen durchschnittlichen TV-Konsum von 242 Minuten und damit sechs Minuten weniger als noch im Vorjahresquartal. Überproportional sank das Interesse an der Flimmerkiste bei jungen Menschen: Die 14- bis 19-Jährigen sahen im ersten Quartal 2012 insgesamt 106 Minuten pro Tag fern. 2011 waren es noch 120 Minuten – der Rückgang beträgt damit innerhalb eines (!) Jahres mehr als zehn Prozent. Nicht ganz so drastisch, aber ähnlich verhielt es sich in allen anderen jungen Altersgruppen.

Obwohl die generelle Sehbeteiligung immer noch hoch ist, könnte dieser erstmalige größere Rückgang einen Einschnitt markieren, wenn sich diese negative Entwicklung fortsetzt. Denn: Das Fernsehen befindet sich im digitalen Zeitalter in einer Identitätskrise. Der zunehmenden Konkurrenz durch interaktive Angebote setzt dieses Passivmedium kaum etwas entgegen, obwohl es durch viel größere Synergien mit dem Internet dazu in der Lage wäre.

In der aktuellen Situation aber ist das Internet, nicht zuletzt durch die sozialen Medien, eher eine Konkurrenz für unsere liebgewonnene Flimmerkiste – und als weiteres interaktives Angebot sind Videospiele nicht zu unterschätzen. Dieser Markt ist in der vergangenen Dekade massiv gewachsen und hat sogar die Kinobranche und ihr Hollywood hinter sich gelassen. Ende 2011 markierte das Spiel «Call of Duty: Modern Warfare 3» den größten Entertainment-Launch aller Zeiten, weil es am ersten Verkaufstag über 400 Millionen US-Dollar eingespielt hat.

Ist das Fernsehen also längst schon ein Medium unter vielen geworden? Das genau ist die Frage, die einhergeht mit jener nach der eigenen Identität. Bei den jüngeren Menschen – die leidenschaftliche Gamer sind, viel auf Facebook surfen, ihre Serien lieber auf DVD schauen, im Kino ihr Medienerlebnis genießen – verliert das Fernsehen seine Relevanz. Oder anders ausgedrückt: Es wird vom Leit- zum Tagesbegleitmedium. Zu letzterem ist beispielsweise das Radio verkommen: Vor Jahrzehnten hatte es ohne größere TV-Konkurrenz einen hohen Wortanteil; es war das Leitmedium der Nachkriegsjahre und weit darüber hinaus. Diesen Status erhielt später das Fernsehen – und das Radio verkam zum Tagesbegleitmedium, das man beliebig an- und ausschaltet, das man nicht mehr aktiv konsumiert. Ausnahmen wie WDR 5 bestätigen hier die Regel.

Interaktive Medien und neue Nutzungswege hochwertiger TV-Inhalte durch diese (Video on Demand) sind in der Lage, beim Fernsehen die Entwicklung einzuleiten, die einst das Radio hat über sich ergehen lassen müssen. Deutliche Anzeichen dafür gibt es längst: Der Siegeszug vom Reality-TV und generell einfach und seicht konsumierbaren Inhalten, die kaum längere aktive Aufmerksamkeit erfordern, passen in dieses Bild. Und ebenso die Statistik von der Mediaagentur OMD Germany im März 2012, nach der mittlerweile zwei Drittel der Menschen ihr Fernsehen nebenbei laufen lassen, während sie andere Dinge tun. Insgesamt ein Drittel tut dies häufig, das andere Drittel zumindest gelegentlich – das Fernsehen ist hier als Tagesbegleitmedium zwar noch Teil des Alltags, aber Informationen, Meinung und richtige Unterhaltung holen sich viele dann woanders.

Aber wäre eine solche Entwicklung für das Fernsehen überhaupt schlimm? Das Radio hat es nach seinem Relevanzverlust schließlich auch geschafft, seinen Platz im Medienangebot neu zu definieren – und heute ist die Nutzungsdauer hoch wie lange nicht mehr. Allein, gehaltvoll und erkenntnisreich ist sie noch in den wenigsten Fällen. Auch die TV-Nutzung könnte nun weiter sinken, bevor sie mit der Entwicklung zum vorherrschenden Begleitmedium wieder steigt. Was auf der Strecke bliebe, wären viele gehaltvolle Inhalte – davor schützen auch GEZ und die Öffentlich-Rechtlichen nicht: Schließlich haben sich fast alle Radioprogramme, auch die gebührenfinanzierten, zum Formatradio entwickelt. Und blickt man auf die derzeitigen Sparmaßnahmen im ZDF mit ihren Absetzungen von intellektuellen Formaten wie «Nachtstudio» oder «Das philosophische Quartett», sind die nächsten Anzeichen der Identitätskrise des Fernsehens erkennbar.

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30.05.2012 00:00 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/56970