360 Grad: Im Sog der Relevanzlosigkeit
Der NDR-Rundfunkrat kritisierte in einem internen Dokument die Talkshows der ARD. Unser Redakteur Julian Miller pflichtet bei.
Als «Günther Jauch» am 11. September vergangenen Jahres seine Premiere in der ARD abfeierte, war das Thema bereits durch das Datum gesetzt. Die Gästeliste der Sendung ließ sich dabei am treffendsten als amüsant bezeichnen. So hielt man in der Redaktion wohl offensichtlich Literaturkritikerin Elke Heidenreich für eine Expertin im internationalen Terrorismus, auch wenn ihre teilweise sehr hausfrauenaffinen Thesen während der Sendung anderes verrieten. Um uns die Gesellschaft der USA zu erklären, lud man Fußballtrainer und Hobby-Kulturethnologe Jürgen Klinsmann ein. Eine seiner Kernthesen: „Der Amerikaner“ hat nicht so viel Zeit sich mit Politik zu beschäftigen, weil er am Wochenende damit beschäftigt ist, sein Haus zu reparieren, und ohnehin macht „der Amerikaner“ ja alles im Vorbeigehen. Natürlich hat das mit der Realität nicht einmal im Entferntesten zu tun. Aber Jauch nickte, blätterte durch seine Karten und hielt diese wenig intelligenten Sätze vielleicht sogar für valide Statements.
Man kann diese Desaster-Premiere als Einzelfall abtun, als das erste Herantasten von Günther Jauch und seiner Redaktion an das öffentlich-rechtliche Polit-Talk-Genre, in dem man natürlich in der ersten Ausgabe keine Perfektion erwarten durfte. Aber noch immer wirken manche Gästekonstellationen seltsam, etwa wenn man Niki Lauda und Ranga Yogeshwar einlädt, um über die hohen Benzinpreise zu diskutieren, oder im April eine Sendung mit Samuel Kochs Leidensgeschichte als Aufhänger produzierte, die leider recht wenig gesellschaftliche und erst recht keine politische Relevanz hatte.
Doch nicht nur Jauch kränkelt an diesem Problem. Auch die Sendung seiner souveräneren Kollegin Anne Will, die bekanntermaßen durch Jauchs Teilumzug zur ARD auf den Mittwoch gechasst wurde, aber dort noch heute die interessantere, weil relevantere, Sendung macht, hat für ein paar ungläubige Blicke gesorgt, als sie in ihre Sendung vom 4. April TV-Psychologin Angelika Kallwass einlud, deren Aufgabe sich bei Sat.1 auf die Vorführung überspitzter und gänzlich unrealistischer wie wenig ansprechend geschriebener Fake-Fälle erstreckt. Thema der Sendung: Alle auf Sinnsuche – Hat die Kirche noch Antworten? Was Kallwass zu einer solchen Diskussion beizutragen hat? Das hat sich dem Verfasser dieser Zeilen ebenso wenig erschlossen. Der Pressetext der Sendung war auch nicht sonderlich hilfreich: „Kallwass verfügt über langjährige Erfahrungen als psychologische Leiterin einer sozialen Einrichtung für obdachlose und erwerbslose Frauen sowie als psychologische Leiterin einer Tagesklinik der Uni-Klinik Köln und als Dozentin bei der Deutschen Angestellten Akademie. Als Psychotherapeutin unterhält sie eine eigene Praxis. Seit 2001 läuft ihre Sendung «Zwei bei Kallwass». Kallwass ließ sich mit 9 Jahren taufen und trat mit 16 wieder aus der Kirche aus.“ Denn das Einzige, das sich hier herauslesen lässt, wäre Folgendes: Jeder, der sich mit neun Jahren taufen lässt und einige Jahre später wieder aus der Kirche austritt, gilt als Experte für ein solches Thema. Das kann man beim NDR doch nicht ernst meinen.
Den Vogel abgeschossen hat derweil Wills und Jauchs Kollegin Sandra Maischberger, die sich für ihre Sendung zur hoch komplexen Finanzkrise Griechenlands niemand geringeren als Schlagersänger und Dschungelkönig Costa Cordalis einlud. Ein wirklich erhellendes Gespräch kam dabei, erwartungsgemäß, nicht zu Stande.
In einer Sitzung des NDR-Rundfunkrats wurde nun auch Kritik aus den eigenen Reihen laut: „Alle fünf Talk-Sendungen sind unpolitischer geworden“, heißt es in einer den Medien zugespielten Tischvorlage. Gut zu wissen, dass es auch zumindest bei Teilen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, wenn Frank Plasberg mittlerweile über Baumärkte talken muss und Günther Jauch es sich nicht verkneifen zu können scheint, in seinem ARD-Format zumindest stellenweise «stern tv» nachzuspielen. Bezeichnend ist es indes, dass der NDR-Rundfunkrat im selben Schreiben anregen muss, Gäste nicht nur nach ihrem Unterhaltungswert auszusuchen – anders ließen sich die Einladungen von Jürgen Klinsmann und Costa Cordalis zu den besagten Themen ohnehin nicht erklären – sondern auch Menschen einzuladen, „die über Fachwissen verfügen und etwas Interessantes zu dem Thema beitragen können.“ Es lässt tief blicken, wenn man derartige Mängel im eigenen Sender anprangern muss. Denn mittlerweile sind «Günther Jauch», «Anne Will» und «Menschen bei Maischberger» durch ihre einschlägige Themen- und Gästeauswahl zumindest ein Stück weit in den Boulevard abgerutscht, was mit der Relevanz, für die die ARD auf diesen Sendeplätzen zu sorgen hat, wohl kaum zu vereinbaren ist. Frank Plasbergs Talk scheint derzeit noch der politsch relevanteste und informativste zu sein. Wenn man dort gerade mal nicht über Baumärkte spricht, versteht sich.
Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.