Der Fernsehfriedhof: „Verlassen Sie den «Tatort»...“

Quotenmeter.de erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 203: Die Sat.1-Kampfansage gegen den Krimiklassiker der ARD.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines weiteren ambitionierten Sat.1-Konzepts, das nicht den gewünschten Erfolg erzielte.

«Schwurgericht» wurde am 12. November 1995 in Sat.1 geboren und entstand zu einer Zeit als der damalige frische Senderchef Fred Kogel mit spektakulären Projekten und prominenten Verpflichtungen die Marktanteile des Senders steigern wollte. Das erklärte Ziel war es schließlich, „nachhaltig die Medienlandschaft zu verändern“. Dazu hatte Kogel unter anderem Thomas Gottschalk, Harald Schmidt und Fritz Egner abgeworben, mit denen er versuchte, sich gegen die starke Konkurrenz von RTL und die öffentlich-rechtlichen Sender zu behaupten. Insbesondere der Erfolg des Ersten Programms der ARD schien dabei ein besonderes Ärgernis darzustellen, denn Sat.1 versuchte gleich zwei seiner Klassiker zu attackieren. Einerseits führte der Kanal die sogenannte Nullzeit ein und ließ seine Sendungen im Abendprogramm um Punkt 20.00 Uhr beginnen, um die Vormachtstellung der «Tagesschau» zu brechen und andererseits wollte man die legendäre Krimireihe «Tatort» mit einer eigenen Produktion namens «Schwurgericht» schwächen.

Ähnlich wie bei der Vorlage klärten darin verschiedene Ermittler in unterschiedlichen Städten grausame Verbrechen auf. Allerdings standen hierbei nicht wie üblich die Polizeikommissare, sondern stattdessen die zuständigen Staatsanwälte im Zentrum der Filme. Dies führte auch dazu, dass große Teile der Handlungen in Gerichtssälen spielten. Weil die Hauptfiguren aber auch außerhalb der Amtsgebäude ermittelten, übernahmen sie dennoch eine ähnliche Funktion wie die Polizisten der Konkurrenz.

Für das Prestigevorhaben von Sat.1 konnten namhafte Gesichter gewonnen werden. Zum Start verkündete der Sender daher stolz, dass man für die ersten 27 Ausgaben bereits sieben prominente Hauptdarsteller gefunden habe. Unter ihnen waren Mariele Millowitsch («Pssst...»), Thekla Carola Wied («Ich heirate eine Familie», «Auf eigene Gefahr»), Jenny Gröllmann («Liebling Kreuzberg», «Unser Lehrer Dr. Specht») und Klaus Wennemann («Der Fahnder», «Schwarz greift ein» und «Is’ was Trainer»). Zudem war auch Uschi Glas im Team dabei, die dem Sender mit «Anna Maria – Eine Frau geht ihren Weg» zeitgleich die erfolgreichste Serie seiner Geschichte bescherte. Ein besonderer Coup gelang dem Sender mit der Verpflichtung von Dietz-Werner Steck, der auch als Kommissar Ernst Bienzle im «Tatort» ermittelte und damit für Original und Kopie zeitgleich tätig war. Später sollte auch Günther Strack als siebenter Ankläger zum Team hinzustoßen, was jedoch nie umgesetzt wurde. Dennoch tauchte er bereits im offiziellen Trailer auf, der alle sieben Schauspieler vereinte. Mit Erwin Keusch, Wolfgang Hesse und Peter Probst wurden darüber hinaus Autoren und Regisseure gewonnen, die zuvor ebenfalls für einige «Tatort»-Ausgaben verantwortlich waren.

Konsequenterweise wurde die neue Krimireihe dann auch gegen die etablierte ARD-Serie programmiert und ging also am Sonntagabend zur besten Sendezeit über den Schirm. Diese direkte Kampfansage von Sat.1 in Richtung ARD wurde damit überspitzt, dass der Privatsender die Kriminalfilme mit dem Spruch „Verlassen Sie den Tatort, jetzt kommt das Schwurgericht“ bewarb. Weil die öffentlich-rechtliche Konkurrenz diese Zweideutigkeit nicht gefiel, ließ sie gegen den Slogan eine Unterlassungsverfügung erwirken. Sat.1 durfte ihn dann zwar nicht mehr benutzen, freute sich aber über die zusätzliche Publicity.

Als es dann am 12. November 1995 zum ersten Aufeinandertreffen der beiden Reihen kam, war die Aufmerksamkeit der Medienlandschaft entsprechend groß. Freuen konnte sich nur die Produktionsfirma Bavaria, die für beide Spielfilme verantwortlich war und gegen sich selbst konkurrierte. Am Ende musste Sat.1 eine herbe Niederlage einstecken. Während der «Tatort» vom Bayrischen Rundfunk mit seinem Fall „Blutiger Asphalt“ rund 8,62 Millionen Zuschauer anlockte, sahen den Auftakt des «Schwurgerichts» mit dem Titel „Der Höschenmörder“ lediglich unter vier Millionen Menschen. Dieses Gefälle sollte sich auch in den kommenden drei Wochen nicht auflösen, sodass die erste Staffel nur mäßig abschnitt.

Anders als bei der Vorlage rotierte der Ausstrahlungsmodus der verschiedenen Staatsanwälte jedoch nicht, sondern ihre Fälle wurden meist en bloc gesendet. Die komplette erste Staffel wurde daher ausschließlich durch Episoden mit Jenny Gröllmann abgedeckt. Vielleicht war diese Einseitigkeit der Grund für das geringe Interesse. Vielleicht waren es aber auch die mäßig spannenden Gerichtsszenen, die kaum Tempo aufkommen ließen. Zwar versuchten die Macher diese im amerikanischen Stil zu dramatisieren, aber da das deutsche Rechtssystem ohne Geschworene funktioniert, mussten die emotionalen Ansprachen der Anwälte auf ein Minimum reduziert werden. Auch die Kritiker zeigten sich nicht sonderlich begeistert. Zu kalkuliert erschien ihnen das Konzept, zu abgegriffen die Geschichten und zu unmotiviert die Darsteller. Einzelne Autoren bezeichneten die Produktionen gar als „Pflichtübung“ mit einem „übermäßig konstruierten Fall“.

Dennoch hielt der Sender an dem Projekt fest und ließ tapfer weitere Ausgaben herstellen. Die zweite Staffel startete dann bereits im April 1996 und lief erneut gegen die Krimiklassiker der ARD. In den ersten beiden Fällen trat dann erstmals Klaus Wennemann als Staatsanwalt auf. Dieser konnte die Quoten jedoch auch nicht steigern. Die Sehbeteiligungen bewegten sich weiterhin um vier Millionen, während die ARD etwa doppelt so hohe Werte erzielen konnte. Auch als am 12. Mai 1996 Hoffnungsträgerin Uschi Glas zum ersten Mal erschien, blieb das Interesse mit 3,47 Millionen Zusehern gering.

Zu diesem Zeitpunkt galt das Projekt «Schwurgericht» bereits längst als gescheitert. Trotz großer Namen und aufwendiger PR blieb das Interesse an den Krimis gering. Das Problem war nur, dass der Sender auf einer großen Anzahl abgeschlossener oder begonnener Produktionen saß. Um diese dennoch ausstrahlen zu können, wurden sie unter dem Label «Der Mordsfilm» ab Februar 1997 zusammen mit anderen TV-Movies gezeigt - diesmal allerdings am Samstagabend. Unter den Ausgaben, die auf diese Weise ihre Erstausstrahlung erfuhren, waren neben zwei Fällen mit Jenny Gröllmann auch ein weiterer Auftritt von Klaus Wennemann. Zudem zeigte Sat.1 erstmals die beiden Folgen mit «Tatort»-Darsteller Dietz-Werner Steck und die drei Filme mit Mariele Millowitsch. Eine Steigerung des Zuschauerinteresses brachten diese Änderungen dennoch nicht. Zwar kletterten die Reichweiten bei einem Fall mit Millowitsch auf knapp fünf Millionen an, doch die übrigen Ausgaben dümpelten deutlich unterhalb der Vier-Millionen-Marke herum.

Nach dem Ende der «Mordsfilme» lagen im Archiv noch immer bisher nicht gezeigte Folgen des «Schwurgerichts» herum. Unter ihnen waren jeweils zwei Ermittlungen mit Thekla Carola Wied, Jenny Gröllmann und Uschi Glas. Diese wurden schließlich ab Dezember 1997 als einzelne TV-Movies ohne eine Einbettung in eine Reihe ausgestrahlt. Die Folgen mit Wied liefen dann an einem Wochenende, während die restlichen Ausgaben mit Uschi Glas rund um Weihnachten zu sehen waren. Die dann noch verbliebenen zwei Filme mit Jenny Gröllmann kamen jedoch erst im Sommer 1998 und 1999 und beendeten das Vorhaben endgültig. Letztlich hatte Gröllmann in knapp der Hälfte aller Filme die Hauptrolle übernommen.

Das «Schwurgericht» wurde übrigens auch deswegen legendär, weil viele Fälle nachträglich vermeintlich spektakuläre Titel erhielten, um das Interesse der Zuschauer zu steigern. So wurde aus „Die verschollene Akte“ später „Mord im Schlachthof“ oder aus „Mordanklage ohne Leiche“ wurde „Verliebt, verlobt, getötet“. Die Produktion „Angst“ bekam später den Titel „Online in den Tod“, während „Unschuldig verurteilt?“ in „Hurengeschäfte“ umbenannt wurde. Am häufigsten zitiert ist wohl der Wechsel von „Schmutzige Wäsche“ in „Saskia, schwanger zum Sex gezwungen".

«Schwurgericht» wurde letztlich am 22. Juni 1999 beerdigt und erreichte ein Alter von wahrscheinlich 24 Folgen, wobei es aufgrund der häufigen Umbenennungen und Einordnungen in andere Programmschwerpunkte schwierig ist, eine exakte Zahl zu benennen. Manche Quellen gehen von 22, andere gar von 25 Folgen aus. Die Reihe hinterließ die Darstellerin Uschi Glas, die für Sat.1 noch zwei Staffeln der Serie «Sylvia – Eine Klasse für sich» drehte, bevor sie dann wieder hauptsächlich für das öffentlich-rechtliche Fernsehen seichtere Stoffe verfilmte. Mariele Millowitsch spielte zunächst durch ihre Verpflichtungen für «girl friends» und «Nikola» in heiteren Produktionen mit. Ab 2003 war sie dann aber durch «Kommissarin Seiler ermittelt», «Die Familienanwältin» und zuletzt «Marie Brand» wieder in ernsthafteren Rollen zu sehen. Jenny Gröllmann übernahm neben vielen kleineren Auftritten im Jahr 2002 die Hauptfigur im mutigen Sat.1-Vorhaben «Die Anstalt – Zurück ins Leben» sowie später eine größere Rolle in «Sturm der Liebe», bevor sie 2006 starb. Auch Klaus Wennemann ist mittlerweile verstorben. Sein Engagement für das «Schwurgericht» sollte seine letzte große Hauptrolle sein. Der Sender Sat.1 versuchte rund ein Jahr nach dem Start seines Krimiprojekts mit einer weiteren spektakulären Filmserie hohe Quoten zu erzielen, doch auch die «German Classics» scheiterten eindrucksvoll.

Möge die Reihe in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann der Spielshow für junge Eltern, die zum Mega-Flop wurde.
09.08.2012 10:59 Uhr  •  Christian Richter Kurz-URL: qmde.de/58423