Die Kritiker: «Kurt Georg Kiesinger – Der vergessene Kanzler»

Das Erste zeigt am späten Montagabend eine Dokumentation über den ehemaligen Bundeskanzler.

Inhalt
Kurt Georg Kiesinger. Der Kanzler der ersten Großen Koalition, der einzige Kanzler, der NSDAP-Mitglied war, der Mann, der mit knapp drei Jahren die kürzeste Amtszeit aller bisherigen Bundeskanzler innehatte. Ein Mann, der deutsche Nachkriegsgeschichte geschrieben hat. Und doch scheint er aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu verschwunden. Dabei steht Kiesinger beispielhaft für die Verstrickung in den Nationalsozialismus, für den Willen, die deutsche Teilung nicht weiter zu zementieren, aber auch für den offenbar unlösbaren Konflikt zwischen der jungen Generation und den alten Autoritäten. Welche Spuren hat er hinterlassen? War er wirklich nur ein Mann des Übergangs? Ein Politiker ohne Eigenschaften?

Während seiner Amtszeit als Kanzler wird er oft als wenig durchsetzungsfähiger Schöngeist, als Versöhner charakterisiert oder gar als "wandelnder Vermittlungsausschuss" bezeichnet. Doch ausgerechnet der moderate Kiesinger löst auch heftige Kontroversen aus. Wie ist Kiesingers Rolle im Nationalsozialismus zu bewerten? War das NSDAP-Mitglied heimlicher Widerständler oder skrupelloser Opportunist? Bis heute gehen die Einschätzungen weit auseinander. Die einen sehen ihn als Taktierer, als politisch kraftlosen Verwalter mit zweifelhafter Vergangenheit. Die anderen als klugen, unterschätzten Staatsmann mit Weitblick. Mit Hilfe von Dokumenten aus der NS-Zeit, jüngst freigegebenen Akten aus seiner Kanzlerschaft und O-Tönen von Zeitzeugen, darunter auch sein Sohn Peter Kiesinger und sein Referent Hans Neusel, versucht «Kurt Georg Kiesinger – Der vergessene Kanzler», eine der schwierigsten Personalien der deutschen Nachkriegsgeschichte einzuordnen.

Kritik
Der Film von Ingo Helm setzt mit einer Beschreibung des konfusen Wahlabends 1969 ein, an dem es zuerst so aussah, als würde die CDU die absolute Mehrheit im Deutschen Bundestag erreichen können und Kiesinger Kanzler bleiben. Doch alle Hochrechnungen entpuppten sich als falsch. Nachdem der amerikanische Präsident Richard Nixon Kiesinger schon am Telefon zu seinem Wahlsieg gratuliert hatte, stellte sich heraus, dass dieser die Wahl knapp verloren hatte und Willy Brandt, sein Noch-Koalitionspartner, der neue Bundeskanzler sein würde.

Kiesinger war – trotz seiner hohen Zustimmungsraten während seiner einzigen Legislaturperiode – wohl der umstrittenste Kanzler der Bundesrepublik. 1933 war er in die NSDAP eingetreten, ab 1940 war er wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt, ferner als Blockleiter ein Parteifunktionär auf der unteren Ebene. „Ein Rädchen im Getriebe der Nazidiktatur“, wie ihn der Film nennt. „Jemand, der es möglich gemacht hat, dass das Dritte Reich zwölf Jahre gedauert hat“, wie sich einer der von Ingo Helm befragten Publizisten ausdrückte. Auf kaum jemanden passt einer der markantesten Sätze des englischen Staatsmannes Edmund Burke wohl besser als auf Kiesinger: „Das Unrecht kann nur triumphieren, wenn rechtschaffene Menschen tatenlos zusehen.“ Jemand wie er war von Anfang an ein Fehler als Bundeskanzler. „An der Spitze steht ein alter Nationalsozialist“, kommentierte Karl Jaspers die Personalie Kiesinger im Jahre 1967. Man kann diesen Satz relativieren, sich zurechtbiegen, sich irgendwie so hindrehen, damit er nicht mehr so abartig klingt. Wahr bleibt er trotzdem und vorbei kommt man an ihm ebenso wenig.

Die Dokumentation setzt sehr stark auf Gespräche mit Zeitzeugen und Experten sowie auf Originalausschnitte damaliger Fernsehsendungen. Die Naziproblematik wird recht differenziert geschildert, letztendlich fehlt es jedoch an einer abschließenden Bewertung. Am Schluss wird Kiesinger von Ingo Helm weder vollständig abgelehnt noch rehabilitiert. Stattdessen blickt man fast schon mit Traurigkeit darauf, dass Kiesinger der „vergessene Kanzler“ der bundesdeutschen Geschichte ist und seine Regierungszeit in einigen Jahrzehnten vielleicht vollständig aus dem Blickfeld der Deutschen gerückt sein wird. Andere Stimmen in der Bundesrepublik würden eine solche Entwicklung sicherlich eher begrüßen.

«Kurt Georg Kiesinger – Der vergessene Kanzler» kann hauptsächlich durch die vielen Interviews punkten. Insgesamt ordnet die Dokumentation kaum ein, lässt Kiesingers umstrittene Notstandsgesetze wenig mehr als eine Randnotiz bleiben und konzentriert sich etwa deutlich ausufernder auf die Klarsfeld-Affäre. Nicht immer ist der dramaturgische Fokus hier richtig, nämlich auf die relevanten Ereignisse, gesetzt worden. Am Schluss entsteht trotzdem ein vielschichtiges Bild des dritten deutschen Bundeskanzlers. Eines, das ihn weder zelebriert noch verteufelt. Ob man einer derart kontroversen historischen Figur damit letzten Endes gerecht wird, ist jedoch fraglich.

Das Erste zeigt «Kurt Georg Kiesinger – Der vergessene Kanzler» am Montag, den 10. September 2012, um 23.30 Uhr.
09.09.2012 08:00 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/59013