Cross-mediales WDR-Projekt: YouTube meets Heimatfilm 2.0

Die tri-mediale Doku «Ein Tag Leben» ist aus eigenen Videos der Zuschauer, Hörer und User des WDR kreiert. Das Medienmagazin Quotenmeter.de sprach vor Ausstrahlung mit der Grimme-Preisträgerin 2012 und Regisseurin Luzia Schmid, die diesmal ohne Regieanweisungen auskommen musste…

Wir schreiben den 30. April 2012: Der WDR ruft im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen dazu auf, das eigene Leben filmisch festzuhalten. Über 3.500 Einsendungen mit einer Gesamtlänge von über 100 Stunden Videomaterial erreichten den Sender, der daraus einen 90-minütigen Doku-Film erstellte: «Ein Tag Leben in NRW». Die Idee erinnert an den YouTube-Film «Life in a Day». Im Juli 2010 – es war der Tag der Duisburger Love Parade-Tragödie – filmten sich ebenfalls Menschen auf der ganzen Welt, um Teil dieses „nutzergenerierten“ Filmprojekts zu werden.

Die deutsche WDR-Adaption realisierte die Grimme-Preis-Gewinnerin Luzia Schmid, die diesmal keinen gewöhnlichen Regie-Einsatz hatte. Immerhin waren die Macher auf kreative Zuschauer-Videos angewiesen. Regieanweisungen an die Protagonisten waren nicht möglich. Die Regisseurin sieht aber auch einen Vorteil darin, wie sie gegenüber Quotenmeter.de zugibt: „Ich musste mich nicht darüber ärgern, was ich als Regisseurin falsch gemacht hatte, sondern konnte mich überraschen lassen.“ Was macht man also als Regisseurin am besagten Drehtag ohne Drehbuch? „Ich war unter anderem Kaffee trinken und habe dort zufälligerweise einen Mann getroffen, der just an dem Tag diese Kaffeebar neu eröffnet hatte und sich damals einen Lebenswunsch nach über 20 Jahren Berufstätigkeit als Sozialarbeiter erfüllt. All dies erzählte er mir, nachdem ich ihm zu «Ein Tag Leben» gefragt hatte, worüber er sich freue. Dieser Clip hat es dann aber leider nicht in den Film geschafft“ – so Luzia Schmid. So achtete das Team darauf „ob die Filme eine Geschichte erzählten, schön oder überraschend waren und ob sie emotional berührten oder neugierig machten“. Technisch nicht sendbares Material habe es nicht gegeben. Der WDR wolle sich bei dieser Doku bewusst vom Trend der Scripted Reality abgrenzen und auf sogenannte „social creativity“ setzen – also auf nutzergenerierte Inhalte, um auch auf die Verjüngung des mobilen Zuschauers einzugehen.

Die Süddeutsche Zeitung schrieb über den damaligen YouTube-Film «Life in a Day», es sei „die Verherrlichung des Banalen“ – ein Urteil, das böse Zungen auch dem WDR-Projekt ausstellen könnten. Luzia Schmid sieht das allerdings gelassen: „Das müssen letztlich die Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. die Kritikerinnen und Kritiker entscheiden. Ich habe mich jedoch bei der Musikauswahl und bei der Montage strikt bemüht, auf Pathos zu verzichten.“ Fakt ist, dass immer mehr Medien auf das Web 2.0 setzen, in dem scheinbar jeder für ein paar Sekunden zum kleinen Star werden kann. „Ich bin keine große Freundin von dem Star-Gedanken. Mir ging es darum, eine Art modernen „Heimatfilm“ zu machen. Eine Momentaufnahme über das normale Leben von normalen Menschen“, so die Journalistin. „Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der WDR dieses Projekt gestemmt hatte und immer mit dem Bewusstsein, dass es auch scheitern könnte. Das finde ich, ist öffentlich-rechtliches Fernsehen at it‘s best! Offen für Neues – zur besten Sendezeit gezeigt.“

Am morgigen Freitag sendet der WDR den Doku-Film um 20.15 Uhr. Dazu wird das Projekt cross-medial auch im Radio und Internet begleitet. Online ist der Film bereits ab diesem Donnerstagabend vorab zu sehen – Zusatzfeatures inklusive wie ungekürztes Rohmaterial. Ist dies die tri-mediale Zukunft oder hat das klassische Lagerfeuer 2.0 weiterhin seine Berechtigung? In diesem Zusammenhang scheint es kurioser Zufall, dass dieser 30. April 2012 – dem Drehtag aller Videosequenzen – kein gewöhnlicher Tag für die deutsche Fernsehgeschichte war: Am diesem Brückentag kurz vor dem 1. Mai-Feiertag endete die analoge Satellitenausstrahlung in Deutschland für das Radio und Fernsehen. Reiner Zufall oder Schicksal, dass ausgerechnet ein solches digitale Web 2.0-Projekt mit User-generated Content an diesem Tag aufgezeichnet wurde? Laut Regisseurin sei diese Verbindung ein purer Zufall.

Sie selbst habe zu diesem Zeitpunkt von der Abschaltung des analogen Fernsehsignals gar nichts gewusst. Zudem sei die Schweizerin eher „wenig“ in sozialen Netzwerken aktiv. Das Web 2.0 gebe dem Journalismus zwar neue Möglichkeiten, aber: „Autorenschaft ist und bleibt das Wichtigste beim Journalismus. Wenn deutlich gekennzeichnet ist, welche Beiträge nicht von Profis stammen, ist das in Ordnung.“ – so die Wahl-Kölnerin. Dennoch sei sie von der Qualität der Einsendungen überzeugt: „Am meisten hat mich die Originalität einiger Clips überrascht. Nicht weil sie besonders gestaltet gewesen wären, aber weil sie inhaltlich verblüffend waren.“ Im Westen nichts Neues? Von wegen. Ein Tag im Leben von 180 Menschen ist in diesem Doku-Film verewigt – ganz ungescriptet. Ein „moderner Heimatfilm“ im digitalen „Web 2.0“.
04.10.2012 08:45 Uhr  •  Manuel Weis Kurz-URL: qmde.de/59535