Robert Zemeckis' Rückkehr zum Realfilm besticht trotz mancher Drehbuchmängel mit einem starken Denzel Washington
Wo war Robert Zemeckis, der kommerziell taugliche Kinomagier hinter der «Zurück in die Zukunft»-Trilogie, «Falsches Spiel mit Roger Rabbit», «Forrest Gump» und «Cast Away», bloß in den vergangenen 13 Jahren? Zwar machte weiterhin ein Hollywood-Regisseur namens Robert Zemeckis Filme, aber war der seelenlose Motion-Capturing-Torturen wie «Beowulf» und «Eine Weihnachtsgeschichte» abliefernde Geldverschwender wirklich der Zemeckis, den wir kennen und lieben gelernt haben? Wo auch immer Zemeckis sein Feingespür für massenkompatible, aber ebenso liebenswerte und durchdachte Charakterisierungen und spaßige, mitreißende Geschichten nach dem Ein-Mann-Stück «Cast Away» gelassen hat, er fand es trotz vieler Jahre in der höllischen „Uncanny Valley“ wieder. Dass Zemeckis' erster Realfilm nach drei Augenkrebs verursachenden Technikspielereien überhaupt abhebt, hat er jedoch vor allem seinem Frontmann Denzel Washington zu verdanken, der mit einer der komplexesten Performances seiner Karriere brilliert.
Whip Whitaker (Denzel Washington) ist ein Flugkapitän, wie er aus den miesesten Pilotenwitzen entsprungen sein könnte – und somit eine Schreckensfigur für jeden, der beim Betreten eines Flugzeugs ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verspürt. Selbst wenn er am nächsten Morgen einen Flug zu absolvieren hat, durchzecht Whip die Nacht, besäuft sich, kokst sich zu und treibt es mit Stewardess Katerina (Nadine Vealzquez). Doch kaum sitzt er im Cockpit, beweist Whip, welch Naturtalent er ist. Während sein noch unerfahrener Saubermann von Co-Piloten (Brian Geraghty) beim Anblick einer Schlechtwetterfront starr vor Furcht ist, manövriert der Lebemann kühl und selbstsicher das Flugzeug aus der Gefahrenzone. Nicht lange vor der Landung gerät die Maschine allerdings ein weiteres Mal in Turbulenzen, die dieses Mal auch Whip an die Grenzen seiner Fähigkeiten drängen. Als mehr und mehr wichtige Flugzeugteile den Geist aufgeben, entscheidet sich der alkoholisierte Tausendsassa zu einem wagemutigen Manöver, um eine kontrollierte Notlandung in die Wege zu leiten.
Whip verliert beim Aufprall das Bewusstsein und wacht einige Zeit später in einem Krankenhaus auf, wo ihm mitgeteilt wird, dass er ein Held sei: 96 der 102 Flugzeuginsassen hätten den Absturz überlebt – eine beeindruckende Leistung. Nur Whips in keinem Lehrbuch stehender Entschluss wäre es zu verdanken, dass so viele Menschen bloß mit dem Schrecken und diversen Blessuren davonkamen. Allerdings wird durch einen Bluttest auch sein Alkohol- und Drogenmissbrauch aktenkundig, was rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Die Pilotengewerkschaft stellt dem zweifelhaften Helden deswegen seinen alten Freund Charlie (Bruce Greenwood) und den gewieften Anwalt Hugh (Don Cheadle) zur Seite, um alles für einen baldigen Abschluss der Untersuchung vorzubereiten. Whip stößt aber zunächst jegliche Hilfe von sich und vergräbt sich im alten Eigenheim seines Vaters, wo er nur Nicole (Kelly Reilly) neben sich duldet, eine Drogenabhängige, die er im Krankenhaus traf und für die er tiefe Sympathie entwickelt …
Katastrophenfilm, Justizdrama, Trinker-Charakterstudie – hinzu kommen die Nebenplots um Whips neue Vertraute Nicole und seine verfahrene Familiensituation: Auf dem Papier erscheint «Flight» ungeheuerlich überfrachtet, und auch wenn Drehbuchautor John Gatis («Real Steel») die diversen Identitäten seiner Story letztlich sehr gut ausbalanciert, so zeigt das Charakterdrama auch auf der Leinwand noch immer einige ungeschliffene Ecken und Kanten. Die Oscar-Nominierung für das Drehbuch von «Flight» erscheint aufgrund einiger langgezogener Sequenzen, wie Nicoles Besuch am Set eines Pornofilms um sich Drogen zu erbetteln, und einiger letztjähriger Konkurrenzfilme, die dank ihrer Cleverness deutlich preiswürdiger wären, wie eine Fehlentscheidung, was jedoch nicht bedeuten soll, dass Gatis schlechte Arbeit lieferte.
Von wenigen Schlenkern abgesehen strafft Gatis Handlung und Themen zu einem klaren roten Faden zusammen: Im Zentrum des Films stehen die Unterschiede zwischen Selbstsuche und Selbstflucht. Diese Themen äußern sich für Whip im Alkoholismus, in einer vorgeschobenen Arroganz, seinem Versuch, sich im Elternhaus einzuigeln, nachdem er in seinem Stolz und seiner mühevoll aufgebauten Rolle verletzt wurde, und in seinem Techtelmechtel mit einer vermeintlich schlechter dastehenden Frau. Die Personen, denen er begegnet, reißen auch religiöse, psychoanalytische und rein pragmatische Ansätze an, die Whips Situation erläutern und verbessern sollen. Selbst wenn Gatis daran scheitert, Whips seelische Odyssee schnörkellos zu schildern, so gelingt es ihm, diesen Querschnitt an Subthemen kraftvoll zu bündeln, so dass er den geneigten Zuschauer auch nach Verlassen des Kinosaals begleitet.
Negativ stößt jedoch auf, dass Gatis zwischen den realistischen, mehrschichtigen Figuren einige sehr flache Archetypen streute, um seine Erzählung auf den Punkt zu bringen. Während John Goodmans Big-Lebowski-Imitation aufgrund der Energie des schauspielerischen Schwergewichts noch zu begeistern weiß, sind Randfiguren wie Whips Sohn (der sich von seinem Vater nicht genügend geliebt fühlt und ihn deshalb von sich stößt) oder die „Preist Jesus!“ stammelnde Gefährtin von Whips Co-Piloten ärgerliches Beiwerk.
Solche Drehbuchschnitzer sind dank Denzel Washingtons fantastischer Performance allerdings leicht verziehen. Der Oscar-Preisträger erschafft einen gebrochenen Anti-Helden, der zwar aufgrund Washingtons Charisma und Whips wahnsinniger Heldentat die Sympathie des Zuschauer sicher hat, gleichwohl aber dessen Frust auf sich zieht, wann immer er die falsche Entscheidung trifft und seine Fortschritte über den Haufen wirft. Ohne in die altbekannten Gemeinplätze des Subgenres zu treten, macht sich Washington somit zum magnetischen Zentrum einer, hin und wieder auch nicht vor gesundem Zynismus zurückschreckenden, Trinker-Charakterstudie. Eindeutig ein Karrierehoch!
Realfilm-Rückkehrer Robert Zemeckis wiederum erreicht nicht die Höhen von «Cast Away» oder «Forrest Gump» und hadert gerade im Mittelteil damit, Whips sich wiederholendem Auf und Ab inszenatorisch die erwünschte Dramatik zu verleihen. Dennoch ist «Flight» ein Versprechen, dass in Zemeckis noch immer ein großes Talent steckt: Die ausführliche Flugsequenz zu Beginn des Films ist nahezu perfekt durchdacht und zieht einen dank exzellenter Schnitt- und Kameraarbeit in ihren Bann. Beklemmender und zugleich heroischer war noch kein Flugzeugabsturz in Film und Fernsehen.
Fazit: Denzel Washington kreiert in diesem Drama eine glaubwürdige, vielschichtige Figur, die von ihren Dämonen gepeinigt wird, und lässt das Publikum darüber Nachgrübeln, wie man sich seine zweite Chance verdienen kann. Zumindest Regisseur Robert Zemeckis hat sich seine Chance auf Wiedergutmachung für die vergangenen 13 Jahre seiner Karriere verdient, denn selbst wenn «Flight» mit einer etwas schlankeren Laufzeit prägnanter wäre, ist Zemeckis' Rückkehr zum Realfilm eine viel versprechende.
«Flight» startet am 24. Januar 2013 in den deutschen Kinos.