Auch ProSiebenSat.1 verabschiedet sich von der Referenz der 14- bis 49-Jährigen, künftig verzichtet man auf Vergleichbarkeit. Damit wird bald wohl jede Sendung zum Gewinner ihrer eigenen Zielgruppe. Warum die Neuerungen auch Chancen bieten...
(Künftige) Hauptzielgruppen wichtiger Privatsender
- RTL-Sender: 14 bis 59 Jahre
- Sat.1: 14 bis 59 Jahre
- ProSieben: 14 bis 39 Jahre
- kabel eins: 14 bis 49 Jahre
- Sat.1 Gold: Frauen 49 bis 69 Jahre
- sixx: Frauen 14 bis 39 Jahre
- Tele5: 20 bis 59 Jahre
Man kann viele Entwicklungsgeschichten über das Fernsehen erzählen. Eine davon geht so: Am Anfang war die ARD, die 1952 mit der Aufschaltung des ersten Fernsehprogramms begann. In den 60er Jahren kamen das ZDF und die dritten Programme dazu – zwei Jahrzehnte lang danach empfingen westdeutsche Haushalte drei Sender, auch die meisten ostdeutschen, die zudem das Staatsfernsehen der DDR sehen konnten. 1984 schalteten dann die ersten Privatsender auf – das Medium trat damit in eine neue Ära ein, die das Fernsehprogramm nachhaltig prägen würde. Mit den Privaten unterwarf man sich der Kommerzialisierung; Einschaltquoten – jahrzehntelang quasi bedeutungslos beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk – wurden zum Dogma für die Branche. Immer mehr Sender schossen aus dem Boden, eine Diversifizierung des TV-Marktes trat ein: mit kleinen Spartenprogrammen für ein bestimmtes Publikum, mit immer mehr Angeboten für die unterschiedlichsten Interessen. Fernsehen wurde vielfältiger, schneller, spezieller.
Mit der Kommerzialisierung kam schnell die Frage auf, welche Zuschauer eigentlich für die Werbekunden am wichtigsten sind und welche einkommensrelevanten Altersgruppen man erreichen wollte. Der damalige RTL-Chef Helmut Thoma führte die sogenannte „werberelevante Zielgruppe“ flächendeckend Anfang der 1990er Jahre ein, sie umfasste die Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren. Später gab Thoma zu: „Wir haben die werberelevante Zielgruppe zu Beginn der neunziger Jahre ganz bewusst so definiert, weil wir bei RTL ein junges Publikum hatten. Die Grenzziehung war reine Willkür.“ Wie sich das Ganze dann verselbständigt habe, sei faszinierend. „In der Branche laufen noch heute alle brav weiter in die gleiche Richtung“, so Thoma gegenüber dem „Spiegel“ im Jahr 2008.
Die gleiche Richtung – damit ist es fünf Jahre später endgültig vorbei. Die allseits bekannte werberelevante Referenzzielgruppe wird abgeschafft. Seit dem 1. März 2013 weist die RTL-Gruppe als Hauptpublikum die 14- bis 59-Jährigen aus, die alte Zielgruppendefinition wurde bis Frühjahr 2013 allerdings als Beiwerk weitergeführt. Vor wenigen Tagen hat nun ProSiebenSat.1 den Ausstieg aus der Referenzzielgruppe bekannt gegeben. Die beiden größten privaten Sendergruppen besitzen summiert die überwältigende Zuschauermehrheit im privaten Fernsehmarkt, und bisher waren sie die Stützpfeiler der Referenzzielgruppe 14 bis 49 Jahre. Mit ihrem Ausstieg brauchen auch kleinere Privatsender nicht mehr auf dieses Publikum zu schauen, da es bisher nur der Vergleichbarkeit gedient hat, die nun obsolet geworden ist. Und die Öffentlich-Rechtlichen schauen ohnehin am liebsten auf das Gesamtpublikum, da sie meist ältere Zuschauer haben.
Was aber kommt statt 14 bis 49? Den Weg von RTL (14 bis 59 Jahre) will ProSiebenSat.1 nicht mitgehen – und damit keine neue Referenzzielgruppe schaffen. Stattdessen weist man für jeden seiner Sender künftig eine eigene Kernzielgruppe aus, bei ProSieben beispielsweise die Zuschauer von 14 bis 39 Jahren, beim Spartensender Sat.1 Gold jene von 49 bis 69 Jahren. Damit einher geht auch, dass die Einschaltquoten künftig weder intern noch von außen vergleichbar sind: Wenn eine Sendung um 20.15 Uhr bei ProSieben 20 Prozent Marktanteil hat und zur gleichen Zeit ein Format bei Sat.1 nur 10 Prozent, dann hat ProSieben eben nicht mehr die Primetime gewonnen – weil die Marktanteile unterschiedlichen Altersgruppen zugeordnet werden und ein Vergleich so nun nicht mehr möglich ist. „Die Gleichmacherei schadet uns nur und verstellt den Blick auf das Wesentliche", sagte Thomas Wagner, Chef des ProSiebenSat.1-Vermarkters, kürzlich gegenüber „Horizont.net“.
Intern, bei Werbekunden und Vermarktern, war die Gruppe der 14- bis 49-Jährigen nie eine bedeutungsvolle Größe, denn hier geht es schon immer um speziellere Kundenorientierung. Der oben angesprochenen Diversifizierung der TV-Inhalte und -Sender folgt nun der unternehmerisch richtige Schritt, auch eine Diversifizierung der Zielgruppen zu betreiben. Eine Entwicklung, die vorauszuahnen war.
Bereits 2010, als sich Tele5 von den 14- bis 49-Jährigen verabschiedete, war bei Quotenmeter.de zu lesen: „Nun richtet also auch in Deutschland der erste Sender seine Zielgruppe anders aus – er dürfte Vorreiter einer kommenden Bewegung sein, die nicht zu einer einzigen Neudefinition der Werberelevanten führen wird, sondern zu einer Diversifizierung der Zielgruppe. Es ist nur logisch, dass Sender künftig mehr als je zuvor auf ihre eigenen, bestimmten Konsumenten schauen werden und weniger auf die 14- bis 49-Jährigen. Viele Sendungen werden so auch schon an die Werbetreibenden vermarktet. Der Spezialisierung des deutschen Fernsehmarktes folgt also auch die Spezialisierung seiner Zielgruppen.“
Im
August 2012 dann, als RTL sich von alten Referenzzielgruppe verabschiedete, folgte die konkrete Prognose bei Quotenmeter.de: „Mit IP Deutschland verabschiedet sich wohl nur der erste Vermarkter von der bis jetzt bestehenden Referenzzielgruppe. Realistisch ist, dass andere folgen werden – aber nicht, um eine neue Referenz der 20- bis 59-Jährigen zu bilden, wie RTL es offensichtlich will, sondern um eigene Zielgruppen für ihren Sender auszugeben.“ Genau diese zehn Monate alte Prognose ist nun eingetreten – und damit auch eine Herausforderung für Außenstehende: Denn mit der Einheitlichkeit der 14- bis 49-Jährigen ist, zumindest von Senderseite, bald Schluss. Künftig werden Pressemeldungen wohl noch euphorisierender kommuniziert, bald wird es für die Sender keine Quotenverlierer mehr geben, sondern nur noch Gewinner. Ähnlich also, wie Politiker ihre Wahlergebnisse solange gut verkaufen, bis es gar nicht mehr anders geht.
Die Herausforderung, mit der neuen Situation umzugehen, liegt nun bei den unabhängigen Berichterstattern: bei Medienmagazinen, Zeitungen, Zeitschriften, bei der Presse. Denn sie müssen künftig in Eigenregie recherchieren, können noch weniger auf die Veröffentlichungen und Statements der Sendergruppen hören. Denn zwecks Vergleichbarkeit braucht es unbedingt eine einheitliche Zielgruppe für die Medien – und ProSiebenSat.1 betont, dass die Gruppen der 14- bis 49-Jährigen sowie der 14- bis 59-Jährigen für alle Sender weiterhin gemessen wird und bei den Quotenmessern von Media Control abgerufen werden kann, auch wenn sie für die Sender selbst keine Bedeutung mehr haben. Theoretisch aber bleibt die Vergleichbarkeit so erhalten.
Dies wird Konflikte schaffen und neue Probleme, beispielsweise wenn Sender ihren großen Neustart als Erfolg ansehen, die berichterstattenden Medien im übergreifenden Quotenvergleich aber nicht. Trotzdem werden Journalisten die neudefinierten, diversen Zielgruppen der Privatsender nicht übergehen können – schließlich werden die Macher ihr TV-Programm künftig noch stärker gemäß der eigenen Kernzielgruppe entwickeln und kaum noch darauf achten, ob es eventuell auch die Gruppe der 14- bis 49-Jährigen ansprechen könnte. Kurz: Eine Beurteilung, ob eine Sendung Erfolg oder Misserfolg ist, wird künftig deutlich schwerer und differenzierter fallen.
Die mögliche neue Ära im Fernsehgeschäft wird aber auch Vorteile mit sich bringen: zunächst ebenfalls in der Berichterstattung, da nun mehr Datenmaterial, mehr Quoten vorliegen, die interessierten Lesern präsentiert werden können. Der Otto-Normalzuschauer darf sich vielleicht auf Sendungen freuen, die noch mehr auf seine Interessen zugeschnitten sind – künftig auch bei den „großen“ Privatsendern, von denen sich einige allmählich zu inhaltlichen Spartensendern entwickeln dürften. Beispielsweise ProSieben, das sich durch die Abkehr von den 14- bis 49-Jährigen nun konsequent dem ganz jungen Publikum verschreiben kann, wie man es schon immer wollte. Vor allem die älteren Zuschauer werden von Privatsendern nicht mehr konsequent ignoriert, sondern dürfen sich auf zusätzliche Angebote freuen – Sat.1 Gold wird hier nur Vorreiter sein.
Und schließlich birgt die Abkehr von der Referenzzielgruppe eine riesige Chance für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Nachdem er sich jahrelang hektisch hat treiben lassen vom Dogma der jungen Zielgruppe und den vermeintlichen Trends des Privatfernsehens, sollte er nun in Ruhe analysieren. Und sich fragen, ob er sich überhaupt noch an einer jungen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen orientieren will. Zumindest sollte nun ihre Relevanz schwinden: Zu viele schlechte, bemüht junge TV-Formate haben die öffentlich-rechtlichen Zuschauer in den vergangenen Jahren über sich ergehen lassen müssen, zu oft hat man versucht, einem jungen Publikum gerecht zu werden.
Nun ist die Chance gekommen, einen kleinen Neuanfang in der Programmgestaltung zu wagen: weniger krampfhaft auf irgendwelche Zielgruppen zu schauen, sondern vor allem auf das Gesamtpublikum. Wo im Privatfernsehen immer mehr Sender ein immer spezielleres Publikum bedienen, können ARD und ZDF den gegenteiligen Weg gehen. Und sich an Inhalten versuchen, bei denen nicht immer auf die Quote geschaut werden muss. Bei denen vielleicht nicht viele Menschen erreicht werden, dafür aber aus vielen Altersgruppen. Ein Programm also, das jedem gefällt, zumindest ein bisschen. Fast so, als wäre 1984 nicht passiert…