Popcorn und Rollenwechsel: Die zehn Kino-Gebote
Unserem Filmkolumnisten Sidney Schering reißt der Geduldsfaden: Um dem Fehlverhalten in Kinos Einhalt zu gebieten, stellt er nun die zehn Gebote für den Kinobesuch auf.
1.: Du sollst keine andere Beschäftigung neben dem Film haben!
Wir nehmen das Atmen und Essen sowie Trinken mal freundlicherweise aus. Ersteres ist für jeden überlebenswichtig, und auch wenn so einige Kinopuristen die Nase rümpfen, wenn sich jemand einen Liter Cola an der Snacktheke kauft, so gibt es einige durstige Kehlen unter uns, die keine zwei Stunden ohne Erfrischung überleben. Und so lange Naschereien unauffällige Nebensächlichkeiten bleiben, sind auch diese in Ordnung. Kritisch wird es, sobald eine Nebenbeschäftigung Aufmerksamkeit vom Film abzwackt. Du willst dich mit deinen Freunden unterhalten? Besucht euch einander oder geht in ein Café, um zu tratschen. Du willst ein üppiges Mahl zu dir nehmen? Geh ins Restaurant! Du willst laut Musik hören? Geh in die Disco! Du willst dich mit deinem Partner der Fleischeslust hingeben? Sucht euch ein Zimmer! Wer sein schwer verdientes Geld fürs Kino ausgibt, sollte sich selbst und seiner Umgebung den Gefallen tun, und das achten, wofür es Kino überhaupt gibt: das Filmprogramm!
2.: Du sollst nicht überschätzen deine Multi-Tasking-Fähigkeit!
„Nur ein paar What's-App-Nachrichten nebenher und mal rasch googeln, wie die Darstellerin aus der einen Actionszene von vorhin heißt und ob es Nacktbilder von ihr gibt – was ist schon dabei?“ Zu viel Ablenkung, das ist dabei! Und das gilt nicht nur für Arthouse-Dramen: Wer erst einmal seinen Blick von der Leinwand abwendet, wird auch bei «Pacific Rim», «Transformers 5: Dieses Mal sind die Titten der weiblichen Nebenrolle echt!» oder «Explodierende Gebäude – Der Film: Special Honk Edition» nicht mehr alles mitbekommen. Gewiss, der Handlung eines hohldoofen Actionfilms ist auch bei ständiger Facebook-Chatterei leichter zu folgen, als der eines filmischen Oscar-Kandidaten. Allerdings definiert sich der Fimgenuss ja bekanntlich nicht allein dadurch, dass man den Plot versteht. Mal kurz nach der Darstellerliste gegoogelt und seiner Ex-Freundin geschrieben, dass die Weiber in «Dicke Hupen 4: Auf der Überholspur» supergeil aussehen, schon hat man den besten Stunt im Film versäumt oder den witzigen Gesichtsausdruck des Hauptdarstellers, der den gesamten Kinosaal zum Lachen gebracht hat. Und wer über Free-TV-Ausstrahlungen wegen der nervigen Werbung jammert, hat eh kein moralisches Anrecht, im Kino sein Smartphone einzuschalten, denn die Surferei zerstört die Atmosphäre eines Films mindestens so sehr wie ein mies getimter Werbeblock. Denn im Fernsehen hält die Handlung während der Ablenkung wenigstens an.
3.: Du sollst nicht blenden!
Wie würde es dir gefallen, wenn ich in deinem Sichtfeld andauernd mit einer Taschenlampe herum wedeln würde? Fändest du es schön, wenn ich spannende Momente, die du verfolgst, zerstöre, indem ich mit bunten Leuchtbildchen vor deinen Augen herumtanze? Wer im Kino sitzt, zahlt, um auf die mit bunten Bildern beworfene Leinwand zu starren. Alle anderen Lichter (Smartphones, Taschenlampen, iPads, beleuchtete Digitaluhren, der Blitz von Polaroidkameras) sind auf ein Minimum zu reduzieren. Zwei, drei Mal die Uhrzeit checken ist genehmigt, alles darüber hinaus ist kritisch!
4.: Du sollst nicht sein ungeduscht!
Es ist eine einfache Frage des Anstands: Niemand findet es schön, in einem dunklen, warmen und eventuell überfüllten Raum dicht an dicht neben einer Person zu sitzen, die seit Tagen kein Badezimmer von innen gesehen hat.
5.: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Snack!
Nur Amor weiß, wie viele Beziehungen daran schon zugrundegingen: „Nein, Schatz, kauf du nur ein kleines Popcorn, ich mag heute nicht“, heißt es an der Snacktheke, ehe die verweigernde Person im Saal von einem lauten *Maammmrpf* begleitet drei Viertel der Tüte weginhaliert. Das belastet nicht nur das Miteinander, die direkten Sitznachbarn haben am daraus resultierenden Streit auch eher selten ihre Freude.
6.: Du sollst nicht gehen völlig unwissend in den Saal!
Es ist der einfachste Trick, wie man sich selbst jede Menge Frust ersparen kann und so auch verhindert, mit seinen genervten Kommentaren oder einem verfrühten Rausgehen seine Mitkinogänger zu stören: Vorm Kinobesuch empfiehlt es sich, ein Grundmaß an Infos über den ausgewählten Film einzuholen – sofern man denn jemand ist, der von Überraschungen gar nichts hält. Die Rede ist hier nicht vom freiwilligen Spoilern. Es geht allein um absolut grundlegende Rahmeninfos. Nein, «Black Swan» ist kein Lesbenporno! Ja, «Nine» und «Sweeney Todd – Der teuflische Barbier aus der Fleet Street» sind Musicals! Nein, «The Artist» ist nicht in Farbe. Stört dich das? Dann parke deinen Hintern in einem anderen Kinosaal!
7.: Du sollst nicht rausposaunen dein Wissen!
Es ist der Supergau für jeden, der sich möglichst spoilerfrei ins Kino manövriert hat: An der Kinokasse angekommen diskutieren Besucher über den Film, den sie eben gesehen haben – und es ist der mit Twists bespickte Film, für den man gerade eine Karte lösen will. Oder noch schlimmer: Jemand, der die gerade laufende Komödie bereits gesehen hat, spricht halblaut und wenige Sekunden zu früh die besten Pointen mit. Oder warnt seinen Sitznachbarn: „Pass jetzt besser auf, denn gleich kommt raus, dass Bruce Willis alles nur geträumt hat, weil er verdrängen wollte, dass seine Frau eine pädophile Schafhirtin aus dem Dritten Reich ist!“ Ein Gentleman (und eine feine Dame) schweigt, wenn sie zuvor schon genossen hat. Zumindest bis er (oder sie) in den eigenen vier Wänden ist.
8.: Du sollst nicht herziehen über Dinge, die sind abseits deines Kenntnisstands!
Ein jeder, der die 3D-Technologie für völligen Humbug hält, sei dazu eingeladen, darüber zu sinnieren, in wie vielen Kinos er sie antestete. Nicht jeder Mensch ist für die Illusion der dritten Dimension geschaffen und sie ist nicht dazu gemacht, jeden Geschmack zu bedienen. Dennoch ist sicher: Viele, die 3D schwach finden, haben lediglich Pech mit dem Kino. Oft genug bewirkte ein Wechsel der Lichtspielstätte des Vertrauens Wunder. Ähnliches gilt für so viele andere Dinge, die in der Welt des Kinos von Belang sind. Musicals sind alle dumm und künstlich überzogen? Kein Wunder, dass dieser Eindruck entsteht, wenn man nur «Rock of Ages» und «High School Musical 2» kennt. Filme abseits des Mainstream sind allesamt unverständlich? Naja, man muss auch nicht direkt mit «Tree of Life» seine ersten Gehversuche machen. Niemand soll sich gezwungen fühlen, alles in der Filmwelt auszuprobieren. Aber Generalurteile sollten mit Bedacht gewählt sein – sonst verurteilt man am Ende noch etwas, was einem zusagen könnte, würde man sich von einem Kenner nur zu den besseren Beispielen leiten lassen.
9.: Du sollst nicht unterstützen der Filmwirtschaft Dummheit!
Filme wie «Kindsköpfe 2», «Kokowääh 2», «Die Schlümpfe 2» oder «Transformers 3» bekommen nicht nur von professionellen Filmliebhabern miese Kritiken, auch der Gelegenheitskinogänger zerreißt sich über solche Filme das Maul. Fans von Adam Sandler oder Til Schweiger wünschen sich in Foren die alte Form ihres Leinwandlieblings zurück, unterdessen werfen Liebhaber nostalgischer Kreaturen wie den Schlümpfen oder den Transformers Hollywood vor, ihre Kindheitserinnerungen zu massakrieren. Dennoch lassen solche Produktionen die Kinokassen laut klingeln, während originelle Ware wie «Drive», «Stoker» oder «The Bling Ring» wirtschaftlich vor sich hinkrebst. Fragt man dann, was so von der Filmwirtschaft zu halten ist, ist das Meckern groß: „Alle Filmemacher sind unoriginell und mutlos, die Studios sind zudem dauergeil auf Fortsetzungen und Remakes“, heißt es. Ja, kann man es den Studios übel nehmen, wenn das Publikum neuartige Filmware ignoriert und wie eine blökende Schafherde in die ewig gleichen Werke rennt, nur um danach zu schimpfen, wie doof das alles war? Kleiner Tipp: Wer «Transformers 1 – 3» doof fand, sollte Teil vier nicht belohnen, indem er eine Eintrittskarte löst. Nur Filme, die sich nicht rentieren, gelten bei Produktionsstudios als Flops. Kritiken und IMDb-Wertungen sind fürs Studio bei der Frage, ob ein Sequel folgen sollte, im Regelfall unbedeutend.
10.: Du sollst nicht missachten der Kino- und Filmwirtschaft Mut!
Dein örtliches Kino führt eine Klassikerreihe ein? Dein Lieblingsregisseur macht einen Film, weitab seiner üblichen Komfortzone? Dein Lieblingsfilm wird am Osterwochenende neu aufgeführt – von einem Liveorchester begleitet? Wie, du weißt nicht, ob du das sehen willst? Spring über deinen Schatten und blättere für diese Ideen etwas Geld hin! Jetzt, da du auf «Langweilige Romantikkomödie 69 – Ich weiß eh, dass ich es doof finden werde» und «Eigentlich wollte ich auf die TV-Ausstrahlung warten, aber ich hatte an diesem Abend nichts anderes zu tun, also bin ich ins Kino gegangen» verzichtet hast, hast du genügend Geld auf der hohen Kante, um ein wenig zu experimentieren. Du wirst erstaunt sein, was dir so alles gefallen wird! Gerade anormale Kinovorführungen sind unfassbar faszinierend! Try it!