Al Jazeera America: Das bessere CNN?

Im August startete der US-Ableger von Al Jazeera. Mit eigenem Programm, vielen abgeworbenen Nachrichtenstars und mit dem Anspruch, News wieder ausgewogen zu zeigen.

Es ist der 21. Oktober 2001, die Welt steht noch immer still nach den Anschlägen auf das World Trade Center. Al-Quaida und Osama Bin Laden – so viel ist längst bekannt – sind verantwortlich für die Katastrophe und sie sind die Feindbilder der USA, gar der westlichen Welt. Wer dieser Osama bin Laden ist, was er will? Kaum jemand kennt diesen neuen Staatsfeind Nr.1, doch nun gibt er ein erstes Fernsehinterview. Mit Al Jazeera, einem bis zu den Anschlägen unbekannten arabischen Nachrichtensender, der in den 90ern startete und als erster eine regimeunabhängige Berichterstattung im Nahen Osten ermöglicht haben soll. An diesem 21. Oktober 2001 darf ein Reporter von Al Jazeera bin Laden interviewen, eine Stunde lang. Die USA sind erzürnt – ausgestrahlt wird das brisante Material letztlich nie, heute kann man es im Internet abrufen.

Dennoch wird Al Jazeera in der westlichen Welt schnell angesehen als der Sender, der Osama bin Ladens Videobotschaften ausstrahlt. Vier sind es bis Ende 2001; Al Jazeera wird zu einer Art Youtube-Ersatz, das heute solche Videobotschaften ähnlich schnell um den Globus verbreiten würde. Als Stimme Arabiens etabliert sich dieser Nachrichtensender um die Jahrtausendwende, täglich schauen viele Millionen Menschen zu.

2006, zehn Jahre nach dem Start, bringt Al Jazeera einen internationalen englischsprachigen Ableger ans Netz, mit Nebensitzen in London und Washington. Der Sender macht sich in der Nachrichtenbranche vor allem deswegen einen Namen, weil er viele renommierte Journalisten von der Konkurrenz abwirbt, unter anderem von der BBC und CNN. Prominentestes Gesicht war David Frost, der in Großbritannien die Interviewkultur im politischen Fernsehen neu geschrieben hatte. Sein Interview mit Richard Nixon nach der Watergate-Affäre wurde legendär – und zur Vorlage für den späteren Film «Frost/Nixon».

Bis zu seinem Tod im August 2013 blieb David Frost seiner neuen Senderheimat Al Jazeera treu. Und er ist die Verkörperung dessen, was Al Jazeera im internationalen Nachrichtenmarkt erreichen will: mit Top-Journalisten, auch aus der westlichen Welt, ein positives Image aufbauen und unabhängigen, relevanten Journalismus machen.

Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist getan, am 20. August 2013 startete Al Jazeera America mit Hauptsitz in New York. Seitdem gibt es Nachrichten rund um die Uhr, fast ausschließlich originales, eigenproduziertes Material. Und stündlich live. Morgens sollen „hard news“ das Geschehen bestimmen und keine Promi-Talks, generell will man den Boulevard als Nachrichtenthema ausblenden. In der Nachtshow sollen die News des Tages extralang aufbereitet werden, außerdem zeige man Geschichten, von denen niemand sonst berichtet. Und Werbung gibt es nur sechs Minuten pro Stunde, rund die Hälfte der Zeit als bei anderen Nachrichtenkanälen.

Sendergesichter sind unter anderem auch abgeworbene Altmeister aus der Branche, wie einst David Frost: Präsidentin ist die vormalige ABC News-Vizepräsidentin Kate O’Brien, Moderatoren unter anderem Ali Welshi (CNNs «Your Money»), Soledad O’Brien (CNN-Nachrichtensprecherin) und John Seigenthaler (Anchorman bei NBC News). Das Publikum soll ebenfalls gehört werden, es wird Teil des Programms: Unter anderem in der täglichen Show «The Stream» am Vorabend, in der die sozialen Medien im Mittelpunkt stehen.

Kritik allerdings kommt auch massiv auf, von genau jener politisch interessierten Netzgemeinde: Seit dem Sendestart von Al Jazeera America ist die internationale Version im Livestream nicht mehr in den USA zu empfangen, nur noch ausgewählte Videos stehen auf der Website zum Abruf bereit. Dies verwundert umso mehr, da bisher nur rund die Hälfte der amerikanischen Haushalte den neuen Nachrichtenkanal empfangen kann. Eine konsequente Expansionsstrategie, die Fans kostet.

Kämpferisch und konsequent lautet auch der Senderslogan: „There’s more to it“. Und vollmundig verspricht man einen Tag vor dem Start: „Change the way you look at news“ – ändere die Art und Weise, wie du auf Nachrichten schaust. Nur wenige Tage später sind sich Medienjournalisten überraschend einig: Al Jazeera America hält dieses Versprechen tatsächlich. In der Huffington Post schreibt man von einer „atemberaubenden Darstellung ausgewogenen Nachrichtenjournalismus, angeführt von herausragenden Anchors und einem beeindruckenden Team aus der ganzen Welt. Man liefert frische News, die bei den US-Networks und den Nachrichtensendern im Kabel mittlerweile größtenteils fehlen.“ Welche frischen Berichte gemeint sind: über die illegalen Kleidermanufakturen in Bangladesch, über das desolate Gefängnissystem in Louisiana, über die Sicherheitsmaßnahmen an der Golden Gate Bridge. Und, selbstverständlich, über die arabischen Entwicklungen, aktuell in Ägypten.

„Al Jazeera ist eine erfrischende Erinnerung an das, was Journalismus tun kann“, schreibt Murray Fromoson in der Huffington Post. Andere pflichten ihm bei: Die L.A. Times spricht dem Sender zwar das Revolutionäre ab, vergleicht ihn aber mit den hochwertigen Beiträgen beim Sender PBS. Und stellt fest, dass die Berichterstattung ausgewogen ist. Der britische Guardian erkennt in Al Jazeera America einen Nachrichtensender, „den die US-Amerikaner verdient haben.“ Einen Vergleich zu PBS zieht auch die Variety, und The New Republic bestätigt das Versprechen fairer und ausbalancierter Nachrichten. MSNBC und FOX News sollten sich Gedanken machen, so die Website.

Das republikanisch geprägte FOX News ist vielleicht der größte Feind, dem Al Jazeera America gegenübersteht: 1996 ging man auf Sendung, es war der bis jetzt letzte große Start eines US-Nachrichtensenders. Die Zuschauer eroberte man schnell, ist heute Marktführer in der Branche. Und hat – für Außenstehende – eben jene Branche zum Schlechteren verändert: Nachrichtenjournalismus wurde auch durch FOX News immer mehr zum Meinungsjournalismus, ausgewogene Berichte und mehrere Perspektiven sind kaum noch gefragt. Das Sensationelle und das Schnelle stehen im Zentrum der Berichterstattung, zunehmend auch bei anderen US-Nachrichtenkanälen. Getreu dem übergeordneten Motto: „Hauptsache, es passiert etwas. Lasst uns darüber urteilen.“

Dass FOX News und andere den Senderstart kritisch beäugen, ist wenig verwunderlich. Schließlich will Al Jazeera America nicht nur ausgewogener berichten (und dem einseitigen Meinungsjournalismus eine Absage erteilen), sondern wird auch noch von denen produziert, die Osama bin Laden einst eine Plattform gegeben haben. Das Image von Al Jazeera ist das wohl größte Problem in den USA; viele Zuschauer müssen erst vom neuen, alten Nachrichtenjournalismus mit arabischen Wurzeln überzeugt werden. So wurden in den ersten Tagen auch keine messbaren Einschaltquoten erzielt, eine direkte Bedrohung für das News-Etablissement scheint also vorerst auszubleiben. Trotz der ernüchternden Zuschauerzahlen will man den Weg des ausgewogenen Journalismus konsequent fortsetzen – Geld genug ist ohnehin vorhanden, dank des milliardenschweren Scheichs und Chairman Hamad bin Thamer Al Thani.

Und doch wären es nicht die Nachrichten-Meinungsmacher, würde man den neuen Konkurrenten nicht mit aller Macht herunterreden: Im Februar sagte Megyn Kelly von FOX News, dass Al Jazeera America das Land infiltrieren und mit terroristischen Schläferzellen in Verbindung stehen würde. FOX News-Analyst Jim Pinkerton vermutete jüngst, dass die meisten Araber Bin Ladens Sichtweise unterstützten und Al Jazeera deswegen dort so erfolgreich sei. Und der erzkonservative Moderator Glenn Beck von TheBlaze bezeichnete den Sender kurz nach seinem Start als „Stimme des Feindes“.

Es wird ein harter Weg gegen diese Meinungsmache. Ob er sich lohnt? Al Jazeera America ist ein wichtiges Experiment zur richtigen Zeit. Denn es geht um nicht weniger als die Frage, ob amerikanische Zuschauer einen solch klassischen, vielleicht etwas langsamen und sensationsarmen Journalismus noch wertschätzen.
06.09.2013 11:50 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/65970