Mord mit weiblicher Intuition

Unfall, Selbstmord, Mord? Im crossmedialen arte-Projekt «Mit innerer Überzeugung» wird ein ungeklärter Kriminalfall verhandelt. Die Zuschauer verfolgen per TV und Web den Prozess und seine Hintergründe, bilden sich ihr eigenes Urteil.

Sie ist ein Mensch, der Träume, Visionen, aber auch sehr viel Angst hat. Durch ihre Heirat mit dem autoritären Paul ist sie in ein Umfeld geraten, wo ihre Angst und ihre Zerbrechlichkeit keinen Platz haben. Das verstärkt die Angst umso mehr. Mir hat die Figur sofort gefallen. Ich mochte diese Gratwanderung, diese Mischung aus Fragilität und Euphorie.
Marie Bäumer über ihre Rolle als Manon Villers
Wenn man die Website des neuen arte-Projekts aufruft, erscheint sofort ein Film, schnell geschnitten wie ein Musikvideo. Schüsse sind zu hören, eine junge Frau zu sehen, dann ein lebloser Körper auf dem Wohnzimmerboden. Blut überall, an der Decke und an der Spielzeugeisenbahn, die unschuldig ihre Runden im Zimmer zieht. Ein Mann spricht mit einer Ermittlerin, es sei Selbstmord. Das sagt auch die Polizei. Die Ermittlerin zweifelt – und fechtet einen Gerichtsprozess an: Wie ist Manon Villers gestorben?

Dieser Prozess ist Hauptgegenstand des neuen arte-Projekts «Mit innerer Überzeugung», das sich über diverse Medien erstreckt. Ähnlich wie bei «About:Kate» vor einem Jahr sind die Zuschauer Teil der Geschichte; sie sollen ihre Meinung kundtun, am Ende den Richter spielen. Alles beginnt am Freitag mit einem Spielfilm, in dem Marie Bäumer ihre erste französischsprachige Rolle innehat. Sie spielt jene Manon Villers, deren Tod ungeklärt ist: Umgekommen ist sie durch eine Schusswaffe – aber ob ihr Ehemann Paul gefeuert hat, sie selbst oder ob ihr Tod ein unglücklicher Unfall war, ist die allgegenwärtige Frage.

Paul Villers ist der einzige Zeuge am Tatort, und er beteuert seine Unschuld, selbstredend. Die Leiche wurde eingeäschert und nicht obduziert. Manons Eltern aber bestehen auf einer Ermittlung. Sie rufen damit Kommissarin Judith Lebrun auf den Plan, sie spricht mit Verwandten und Bekannten der Verstorbenen. Und sie ist es, die Zweifel hat an Pauls Aussage seiner Unschuld. Ihre „innere Überzeugung“ – daher der Titel des Projekts – ist eine andere, vielleicht spricht aus ihr die berühmte weibliche Intuition oder ihre Erfahrung als Ermittlerin. Auch wenn die entscheidenden Beweise fehlen: Lebrun glaubt an die Schuld von Paul Villers, will ihn vor Gericht sehen. Und sie bekommt den Prozess.

«Mit innerer Überzeugung» diskutiert in den kommenden Wochen die Grundsätze von Schuld und Sühne; hinterfragt Ermittlermethoden, die nicht zwingend auf Beweisen fußen; definiert die Frage nach einem rechtmäßigen Prozess Urteil und wahrer, gefühlter Gerechtigkeit – zwei Elemente, die immer wieder auseinanderklaffen. Manons Darstellerin Marie Bäumer spricht von der „Schnittstelle zwischen Schuld und Unschuld“, die diesen Fall so besonders mache. „Es gibt keine Beweise, nur die ‚innere Überzeugung‘ der Ermittlerin, dass Paul schuldig ist. Aber die Kommissarin hat in Bezug auf Manon eine Obsession entwickelt. Wie objektiv ist sie?“ Es ist kein Zufall, dass dieses arte-Projekt interessiert, inmitten von Zeiten realer (Schau-)Prozesse und öffentlicher Verurteilungen wie bei Jörg Kachelmann oder Alice Schwarzer.

Auch der Prozess, den arte erzählt, basiert auf einer wahren Geschichte: Ganz Frankreich diskutierte über die „Affaire Muller“, in der der elsässischer Rechtsmediziner des Mordes an seiner Frau beschuldigt wurde. 1999 starb sie, 2013 wurde der Fall neu aufgerollt, nachdem der Mediziner zu 20 Jahren Haft verurteilt wurden war. In letzter Instanz wurde Dr. Muller freigesprochen. „Ich bin unschuldig“, waren oft seine einzigen Worte der Verteidigung. Auch im fiktionalen Fall kann Paul Villers oft nichts anderes sagen. Man müsse ihm glauben. Er hat wenige Argumente – die Staatsanwälte aber auch.

Aufgeteilt ist die arte-Produktion in zwei Teile: Im Part „Die Affäre“ entdeckt der Zuschauer die Hintergründe zum Fall und beobachtet die Ermittlungen der Kommissarin. Er kann im Netz die Ermittlungsakten durchforsten und erfährt im Auftakt-Spielfilm, wie Manon und Paul lebten und was Ermittlerin Lebrun herausfindet. In Rückblenden nimmt der Zuschauer am Leben Manons vor ihrem Tod teil, und er erkennt eine gebrochene Figur, eine Frau, die ihren Mann verlassen wollte und an Depressionen gelitten hat.

Was der Zuschauer im Spielfilm aber nicht erfährt, ist das Urteil – denn im Anschluss an den Film beginnt der zweite Part des Projekts „Der Prozess“. Auch hier ist Manon als Todesopfer allgegenwärtig: Drei Wochen lang stellt arte auf der Website die einzelnen Schnipsel des Gerichtsprozesses als Videoanhörungen online, die Zuschauer können das Spektakel sogar per Multicam verfolgen – also aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Und nach jeder Anhörung sollen sie ihre Meinung sagen, ihre innere Überzeugung preisgeben – über die Website, über Facebook, über Twitter. Sie können abstimmen, ihr eigenes Urteil fällen. Und am Ende für sich selbst herausfinden, ob sie mit ihrer Intuition richtig gelegen haben: Haben sie sich von der öffentlichen Meinung, von den sozialen Netzwerken und den Medien leiten lassen? Haben sie sich ihre eigene Meinung gebildet? Und war sie die richtige? Ende März zeigt arte den Gerichtsprozess auch noch einmal als Film am Stück – das Urteil inklusive.

Link zur Website des Projekts

arte.tv/ueberzeugung
«Mit innerer Überzeugung» ist ein crossmediales Experiment, das seine Teilnehmer vereinnahmen kann und ein neues Fernseherlebnis bietet. Dies zeigt allein schon die aufwändig gestaltete Website, das zeigt aber auch der eigentliche Gerichtsprozess, der so realistisch wie möglich erscheint: Dank eines Verzichts auf Kamerafilter oder generell auf künstlerische Verfremdung verschmelzen beim Prozess die Grenzen zwischen Realität und Fiktion – ganz im Gegensatz zum Spielfilm, der als film noir beworben wird.

Auf die Frage, wie sie in dem Fall entscheiden würde, antwortet Schauspielerin Marie Bäumer: „Intuitiv würde ich sagen: Paul war es, er hat seine Frau getötet, im Affekt. Obwohl ich merke, dass es mir schwerfällt, das zu sagen, denn ich bin überzeugt, dass er sie wirklich geliebt hat oder sagen wir: dass er sie wirklich lieben wollte.“ Wie entscheiden wohl die Zuschauer?

arte zeigt den Spielfilm «Mit innerer Überzeugung» am Freitag, 14. Februar, um 20.15 Uhr.
13.02.2014 13:52 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/69002