Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 290: Der deutsche „Pop-Poet“, der sogar Harald Schmidt beeindrucken konnte.
Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des ambitionierten Versuchs, die Bereiche Literatur und Musikfernsehen zusammenzubringen.
Der «MTV Lesezirkel» wurde am 27. September 2001 bei MTV geboren und entstand zu einer Zeit, als der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre auf einem ersten Höhepunkt seiner Karriere angekommen war. Aufsehen hatte er zuvor mit seinen frechen Artikeln als Redakteur und Kolumnist bei diversen Zeitungen erregt. Seinen großen Durchbruch erreichte er im Jahr 1998 mit dem Debütroman „Soloalbum“, in dem er seine Erfahrungen als Musikjournalist u.a. beim Rolling Stones Magazine verarbeitet hatte. Die Nachfolgewerke „Livealbum“, „Remix“ und „Blackbox“ entwickelten sich anschließend ebenso zu Publikumserfolgen und die dazu durchgeführten Lesungen waren spektakuläre Events, zu denen Tausende Fans kamen. Aufgrund seines noch jungen Alters (25), den Themen seiner Veröffentlichungen sowie seines stets provokanten und größenwahnsinnigen Verhaltens bekam er bald den Slogan „Pop-Poet“ oder „Enfant Terrible der Literatur“ zugesprochen. Er selbst schien diesen Ruf zu mögen und heizte die Diskussionen um seine Person immer wieder bereitwillig an - unter anderem mit öffentlichen Hasstiraden gegen andere Autoren und Musiker (insbesondere gegen Hartmut Engler und „Pur“).
Parallel war er zusätzlich als Gag-Autor für die legendäre
«Harald Schmidt Show» in Sat.1 tätig, was ihm seinen zu jener Zeit jüngsten Coup einbrachte, nämlich die Veröffentlichung seines Theaterstücks „Claus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit mir essen“. Dieses basierte auf einem Interview, das Stuckrad-Barre mit Claus Peymann, dem Leiter des Berliner Ensembles, in einem Herrenausstatter geführt hatte und bei dem sich der eitle Theaterchef in schier endlose Monologe über Nichtigkeiten verstrickte. Stuckrad-Barre schrieb akribisch mit und ließ das Gespräch anschließend nahezu unverändert in der FAZ abdrucken. Darauf wurde wiederum sein früherer Arbeitgeber Harald Schmidt aufmerksam und entschied, den Text in seiner Show aufführen zu lassen. Dabei schlüpfte Schmidt in die Rolle von Peymann, während Stuckrad-Barre sich selbst spielte, was nicht schwer war, da er lediglich am Rande stehen und sich Notizen machen musste. Nach der Ausstrahlung der 20minütigen Szene lud der echte Peymann Stuckrad-Barre und Schmidt ein, das Stück offiziell in seinem Haus aufzuführen.
Zurück zum «MTV Lesezirkel». Dass Stuckrad-Barre mit seiner cleveren, aber provozierenden Art immer wieder für Aufsehen sorgte, war auch Catherine Mühlemann, der frischberufenen Geschäftsführerin des Musiksenders MTV, nicht entgangen. Da sie gerade auf der Suche nach neuen Ideen und Gesichtern war, um zum 20. Geburtstag des Kanals die Marktführerschaft von Konkurrent VIVA zurückerobern zu können, verpflichtete sie den „Pop-Poeten“ Stuckrad-Barre für eine eigene Sendung. Ihm und der verantwortlichen Produktionsfirma probono überließ sie bei ihrer Entwicklung und Umsetzung nahezu freie Hand. Hinter dem Unternehmen stand übrigens Friedrich Küppersbusch, für dessen frühere Reihe «Privatfernsehen» Stuckrad-Barre im Jahr 1997 als Mitglied der Redaktion gearbeitet hatte.
Die beiden versprachen den MTV-Zuschauern eine ganz besondere Medien-Nachlese, in der Stuckrad-Barre die deutsche Presselandschaft ironisch kommentieren sollte. Eine Art Wochenrückblick, in der kuriose Beiträge aus nahezu allen deutschen Zeitungen und Zeitschriften aufgegriffen wurden. Die Auswahl der Quellen reichte von seriös-geltenden Titeln wie „ZEIT“, „NZZ“, und „SPIEGEL“ über Boulevard-Blätter wie „Bunte“, „Bravo“ und „Bild“ bis zu kuriosen Spezialmagazinen wie „Wild und Huhn“. Dazu testete er Abo-Prämien und untersuchte die Zeitungs-Exemplare, die bei Ärzten im Wartezimmer auslagen auf deren Befall von Keimen. In einem anderen Beitrag probierte er aus, wie leicht man auf einer Messe Bücher klauen kann.
Weil er Ausschnitte aus anderen Medien nahm, diese parodierte, überhöhte, kommentierte und um witzige Studioaktionen oder Einspieler ergänzte, wurde das Format oft mit «TV Total» und natürlich mit der «Harald Schmidt Show» verglichen. Sicher nicht zu unrecht, denn vom Grundton erinnerte das Ergebnis durchaus an solche Late-Nights. Es hatte aber fortwährend einen eindeutigen Schwerpunkt auf Literatur. Dies spiegelte sich auch in der Auswahl der Gäste wider, unter denen oft andere Autoren (u.a. Paul Sahner und Christian Kracht) oder Lektoren waren. Kamen nicht literarische Personen, mussten diese aus ihren Lieblingsbüchern oder Werken, mit denen sie eine besondere Geschichte verbanden, vorlesen. So rezitierte Smudo von den „Fantastischen Vier“ einige Passagen aus dem Drogenroman „Fear and Loathing in Las Vegas“ und „Echt“-Sänger Kim Frank las aus den unveröffentlichten Tagebüchern von Rio Reiser vor. Schließlich hatte Frank mit seiner Band kurz zuvor den Reiser-Klassiker „Junimond“ neu aufgenommen. Kracht wiederum bot zusammen mit Stuckrad-Barre ein Abenteuer der „Drei Fragezeichen“ dar.
Hinter allem Quatsch stand jedoch das tatsächlich ernstgemeinte Bestreben relevante Themen sowie ein Interesse für Literatur zu vermitteln. Dieses Bemühen zeigte sich vor allem im Engagement des renommierten Schriftstellers Walter Kempowski, der in jeder Ausgabe einen deutschen Klassiker empfahl und die Zuschauer aufforderte, diesen als Hausaufgabe zum nächsten Mal durchzuarbeiten. Dafür bekamen die Menschen im Studiopublikum immer eigene Kopien geschenkt. Außerdem durfte ein Zuschauer oder eine Zuschauerin auf dem sogenannten „Ethiksessel“ Platz nehmen und immer dann intervenieren, wenn es moralische Einwände gegen Beiträge oder Äußerungen gab.
Wie sich anhand der Beschreibungen vermuten lässt, war der gesamte Ablauf meist chaotisch, hektisch und überladen. Dazu kam Stuckrad-Barres anarchische und überdrehte Art, durch die er seine Gäste kaum zu Wort kommen ließ. Und dennoch war das Ergebnis immer unterhaltsam, oft anspruchsvoll und nie abgegriffen. Dies wurde sogar von der Presse bestätigt, die bereits vor dem Start bereitwillig und wohlwollend über die Produktion berichtete, obwohl Stuckrad-Barre bis zuletzt nicht für Promotion zur Verfügung stand. Viele Artikel sprachen ihm bereits die Nachfolge von Marcel Reich-Ranicki als neue deutsche Kritiker-Instanz zu.
Die einstündigen Ausgaben wurden am Donnerstagabend um 22.00 Uhr live aus einem kleinen Studio in Berlin-Kreuzberg gesendet. All die vielen lobenden Worte halfen aber nicht, denn das Konzept fand kein großes Publikum. Ob dies daran lag, dass Stuckrad-Barre zu oft aneckte, Konkurrent Stefan Raab mit seinem damals noch sehr beliebten «TV Total» im direkten Gegenprogramm lief oder das Thema Literatur bei MTV falsch angesiedelt war, lässt sich schwer ausmachen. Nach dem Ende der ersten Staffel gab der Kanal jedenfalls keine weitere mehr in Auftrag. Produzent Küppersbusch versuchte zwar noch eine Fortsetzung bei einem anderen Anbieter zu ermöglichen, scheiterte damit jedoch.
«MTV Lesezirkel» wurde am 20. Dezember 2001 beerdigt und erreichte ein Alter von zwölf Folgen. Die Show hinterließ den Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre, der sich wenig später öffentlich zu seiner Alkohol- und Drogenabhängigkeit bekannte und sich bei seinem Entzug im Rahmen des Dokumentarfilms «Rausch und Ruhm» filmen ließ. Im Jahr 2005 kehrte er in der unterhaltsamen Reihe «Stuckrad bei den Schweizern» vor die Kamera zurück. Zuletzt führte er durch die Sendung «Stuckrad Late Night» bei ZDFneo bzw. durch deren Nachfolgeformat «Stuckrad-Barre» bei Tele 5.
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einer mysteriösen Comedyshow von VIVA.