Der Fernsehfriedhof: Wie lang überlebt die Schildkröte in der Mikrowelle?

Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 293: Eine missverstandene Gameshow-Parodie und die aberwitzigste Gewinnsumme der TV-Welt.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir zweier Radiolegenden und ihrer längst überfälligen Idee.

«Die 100 Millionen Mark Show» wurde am 07. Juni 1998 bei RTL geboren und entstand zu einer Zeit, als das deutsche Fernsehen von zahlreichen durchformatierten Game- und Talkshows bestimmt wurde. So boten Hans Meiser, Arabella Kiesbauer, Bärbel Schäfer, Ilona Christen, Andreas Türck, Sonja Zietlow, Vera Int-Veen, Jörg Pilawa und Jürgen Fliege jeweils nahezu identische Sendungen an und konnten sich nur durch noch extremere Gäste oder noch stärker zugespitzte Gespräche von einander abheben. Parallel versuchten am Abend große Spielshows wie «Hausfieber», «Glücksritter», «Glücksspirale» und natürlich «Die 100.000 Mark Show» mit enormer Härte und hohen Gewinnsummen die Zuschauer zu begeistern. Auch hier war deutlich zu erkennen, dass sich die Produktionen stets gezwungen sahen, die übrigen Konkurrenten bezüglich der Irrsinnigkeit der Herausforderungen und der Höhe der Belohnungen zu überbieten. Als «Die 100.000 Mark Show» im Jahr 1993 erstmals ausgestrahlt wurde, war der in ihr erreichbare Betrag noch der höchste der deutschen Fernsehgeschichte und galt zugleich als skandalös. Doch schon wenig später standen bei «Glücksritter» bereits 170.000 Mark in Aussicht. In «Hausfieber» konnte dann gar ein komplettes Einfamilienhaus erkämpft werden, bevor Günther Jauch in jeder Ausgabe von «Millionär gesucht» eine Prämie von einer Million Mark vergab. Angesichts dieser fortschreitenden Spiralen, in denen die Programme durch die ewigen Steigerungen zuweilen selbst wie ihre eigenen Karikaturen wirkten, war es nur logisch, dass diese Entwicklungen bald in satirischer Form aufgegriffen wurden.

Mit «TV.Kaiser», «Talk 2000» und «Fiktiv – Das einzig wahre Magazin» existierten bereits entsprechende Ansätze für Daily Talks und Boulevard-Magazine, als endlich «Die 100 Millionen Mark Show» antrat, um nun die übertriebenen Spielshows zu entlarven. Dabei war selbstverständlich schon der Titel ein Fingerzeig auf die steigenden Geldbeträge. Allerdings konzentrierte sich die Reihe nicht nur auf jene abendlichen Events, sondern kombinierte sie zugleich mit Talkelementen und verstand sich dadurch als einen Platzhalter für nahezu alle Fehlentwicklungen des damaligen (Privat-)Fernsehens.

Hinter dem Projekt standen die Autoren Sascha Zeus und Michael Wirbitzky, wobei letzterer zugleich die Moderation übernahm. Das Duo hatte zuvor Gags für einige TV-Comedys geschrieben und war seit Ende der 1980er im Radiofunk des SWF zu hören. Ab 1996 führten sie gemeinsam durch das dortige Morgenprogramm und glänzten in diesem mit Humor, Bissigkeit und Tiefgang. Für die Umsetzung ihrer TV-Persiflage entschieden sie sich für eine Zusammenarbeit mit dem Bonner Kontra-Kreis-Theater und verlagerten dadurch die Geschehnisse bewusst vom großen Fernsehstudio auf eine winzige Theaterbühne. Gerade die damaligen Talks wiesen letztlich eine große (oft ungewollte) Nähe zu reinem Theater und Schauspiel auf.

Formal gab es in jeder Folge sowohl für die Zuschauer im Saal als auch das heimische Publikum mehrere Möglichkeiten, die Summe von 100 Millionen Mark durch verschiedene Spiele erzielen zu können. Dazu musste unter anderem geschätzt werden, wie lang eine Schildkröte in einer aktivierten Mikrowelle überleben konnte, wobei die Prüfung des Tipps direkt vor laufenden Kameras erfolgte. Oder es musste an einem klassischen Glücksrad eine bestimmte Zahl erdreht werden. Wenig überraschend gingen aus den Aktionen die Kandidaten niemals erfolgreich hervor. Schließlich handelte es sich um eine kritisierende Aufführung und eben keine echte Gameshow. Der titelgebende Gewinn stand daher niemals wirklich zur Disposition und die Zuschauer vor Ort waren eher Theaterbesucher als Fernseh-Fans. Entsprechend reduziert fiel die Kulisse aus, die im wesentlichen aus einem absichtlich geschmacklos wirkenden Glitzervorhang und einigen Sitzmöbeln bestand.

Neben einem theatralischen Ansatz wählten Wirbitzky und Zeus als zentrales Stilmittel zudem die Redundanz, um die Eintönigkeit und strenge Formatierung der verspotteten Produktionen zu demaskieren. Neben einer sich andauernd wiederholenden Struktur beinhaltete daher jede der 30minütigen Ausgaben ebenso die immer gleichen, erzwungenen Witze. Beispielsweise ließ sich der Tresor, in dem sich das zu erlangende Geld angeblich befunden haben soll, niemals öffnen oder das Glücksrad sprang bei jedem Dreh stets auf die „Null“. Ebenso wurde die Schildkröte in der Mikrowelle jedes Mal durch einen Haufen Asche ausgetauscht, unabhängig davon, welche Zeitspanne die Kandidaten vorgeschlagen hatten.

Dazu kam, dass die ewig gleiche zweiköpfige Studioband als wechselnde, bekannte Pop-Gruppen angekündigt wurde und auf der Bühne viele prominente Gäste auftraten, hinter denen sich nur verkleidete Darsteller verbargen, die gar nicht erst versuchten, ihre Figuren exakt zu imitieren. Sinnbilder dafür, dass die Gäste im täglichen TV-Wahn einerseits lediglich austauschbare Etiketten blieben, hinter denen wahllos jeder Mensch stecken konnte und es andererseits möglich war, die selben Menschen in immer andere Rollen schlüpfen und immer andere Geschichten erzählen zu lassen. Ein Vorwurf, der sich insbesondere gegen die zahlreichen Daily Talks richtete. Die vollständige sarkastische Wirkung offenbarte sich daher nicht beim Anschauen einer einzelnen Folge. Vielmehr wurde sie erst nach mehreren Episoden sichtbar, wenn diese konzeptuelle Redundanz auffallen konnte.

Das unkonventionelle Experiment lief am Sonntagabend meist gegen Mitternacht über den Schirm. Dass es ausgerechnet bei jenem Sender lief, der die meisten angeprangerten Formate und Entwicklungen hervorgebracht hatte, war aber weniger in der selbstironischen Haltung der Verantwortlichen begründet, als in der Tatsache, dass es im Fenster des Drittanbieters KANAL 4 lief und somit streng genommen gar nicht zum Portfolio von RTL gehörte. Um eine inhaltliche Vielfalt sicher zu stellen, waren und sind große TV-Anstalten nämlich verpflichtet, einen Anteil ihrer Sendezeit für unabhängige Produzenten (z.B. KANAL 4) zur Verfügung zu stellen, die über den darin gezeigten Inhalt völlig frei entscheiden können. Die Ausstrahlung stand damit quasi unter staatlichem Schutz und konnte selbst aufgrund der äußerst geringen Sehbeteiligungen nicht unterbunden werden.

Der verhaltende Zuspruch gerade unter dem RTL-Stammpublikum sorgte auf der anderen Seite dazu, dass die Wirkung der Satire weitestgehend verpuffte. Dies änderte sich auch nicht, als im September 1999 die deutsche Premiere der US-Serie «South Park» im direkten Vorprogramm positioniert wurde. Dadurch lockte der Kanal zu später Zeit zwar viele jugendliche Zuschauer an, die auf diese Weise auf das nachfolgende Konzept aufmerksam wurden, doch schienen viele von ihnen die Dekonstruktion missverstanden oder den parodistischen Ansatz übersehen zu haben. So lassen sich in Foren noch heute umfängliche Hass-Tiraden gegen die Sendung finden, in denen ihre Eintönigkeit und billige Optik bemängelt und ihre sofortige Absetzung oder sogar die Erschießung des Moderators gefordert werden.

«Die 100 Millionen Mark Show» wurde im Sommer 2000 beerdigt und erreichte ein Alter von rund zwei Jahren. Die Show hinterließ die Moderatoren Michael Wirbitzky und Sascha Zeus, die noch heute durch die «SWR3 Morningshow» führen und dafür im Jahr 2011 mit dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet wurden. Den Trend der steigenden Gewinnsummen konnten sie nicht aufhalten, weil im Rahmen des Erfolgs von «Wer wird Millionär?» und des anschließenden Quizbooms stiegen die Beträge weiter an und erreichten mit «Die Chance Deines Lebens» (10 Millionen Mark) sowie «Die 5 Millionen SKL Show» (5 Millionen Euro) einen vorläufigen Höhepunkt. Übrigens, bei den Schildkröten in der Mikrowelle handelte es sich um Attrappen, sodass kein Tier durch die Dreharbeiten zu Schaden kam.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächsten Ausgaben des Fernsehfriedhofs widmen sich einigen längst vergessenen TV-Skandalen. Los geht es am kommenden Donnerstag mit einem verhängnisvollen Kuss.
04.07.2014 11:05 Uhr  •  Christian Richter Kurz-URL: qmde.de/71646