Der Skandalfriedhof: Bis zum letzten Atemzug

Christian Richter erinnert an Aufreger im Fernsehen, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 298: Ein im Fernsehen übertragener Selbstmord.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir der erschreckenden letzten Minuten eines leidenden Mannes.

"Das Selbstmord-Video" lief am 05. August 1992 im Rahmen der Sat.1-Reihe «Akut», die eine dieser Krawall-Sendungen der frühen 90er Jahre war und sich in die Linie von Formaten wie «Retter», «K - Verbrechen im Fadenkreuz» oder «A.T. - Die andere Talkshow» einreihen konnte. Das Konzept hinter all diesen Formaten war stets gleich. Mit gezielten Grenzüberschreitungen, fragwürdiger Moral und spektakulären Reality-Bildern sollten mediale Aufmerksamkeiten erzeugt und die Zuschauer von den etablierten öffentlich-rechtlichen Sendern zur noch jungen privaten Konkurrenz gelockt werden. Diese Taktik verfolgten ebenso die Macher hinter «Akut», die ihre Produktion selbst als investigatives Magazin verstanden und regelmäßig darin versuchten, vermeintliche Skandale aufzudecken. Beispielsweise berichteten sie über die angebliche Stasivergangenheit von Promis, die Foltermethoden von Terrorgruppen, amerikanische Waffennarren, rechtsradikale Musikgruppen in Ostdeutschland, Tierquälerei bei der Putenzucht, aber auch über Bürgerproteste gegen Fluglärm und die Gefahren beim Sonnenbaden durch Ozon. Die meisten Themen fußten damit auf Vorurteilen oder schürten gezielt vorhandene Klischees und Ängste.

Am Abend jenes Mittwochs im August ging die Redaktion auf der Jagd nach Beachtung noch einen Schritt weiter und nahm einen Beitrag über eine Gesellschaft für Humanes Sterben ins Programm, die sich für die Legalisierung der Sterbebegleitung und -hilfe sowie für ein Selbstbestimmungsrecht bis zum unwiderruflichen Lebensende einsetzte. In der damaligen Reportage wurde nun behauptet, die Organisation würde den Selbstmord nicht nur verharmlosen und finanziell ausnutzen, sondern obendrein sogar Anleitungen zur Selbsttötung verbreiten. Als Beweis zeigte man anschließend ein selbstgedrehtes Video des 51jährigen Christian Sch., der sich zuvor eine solche Anleitung besorgt und dann seinen eigenen Freitod gefilmt hatte. Die Aufnahmen zeigten ihn, wie er nackt in der Badewanne saß und in die Kamera erklärte, dass er gerade ein tödliches Medikament genommen hatte. Kurz darauf begann sein Ringen mit dem Tod. Er krümmte sich, würgte und röchelte minutenlang im wahrsten Sinne des Wortes um sein Leben. Erst wenige Augenblicke bevor er diesen Kampf endgültig verlor, hielten die Verantwortlichen das Bewegtbild an und wiesen darauf hin, dass man den Zuschauern nicht noch mehr zumuten wolle. Dies hielt sie jedoch nicht davon ab, die Audiospur weiterlaufen zu lassen, die schließlich um kurz nach 22.00 Uhr im freizugänglichen Fernsehen die letzten Atemzüge des Mannes dokumentierte.

Die verstörenden Bilder und Töne sorgten in den nachfolgenden Tagen bei einigen Journalisten für Kritik am Sender Sat.1 sowie an den verantwortlichen Redakteuren, denen sie Sensationslust und Unmenschlichkeit vorwarfen. Diese wiederum rechtfertigten den Einspielfilm, damit, dass das Video beweisen sollte, dass die Ratschläge der Organisation eben gerade nicht human sein würden. Eine Begründung, die scheinheilig und vorgeschoben wirkte, schon deshalb weil man der BILD-Zeitung die Aufnahmen vorab zur Verfügung gestellt hatte und sich das Blatt am Morgen der Ausstrahlung bereits ausführlich auf der Titelseite darüber auslassen konnte. All diesen verzweifelt wirkenden Bemühungen zum Trotz blieben die erreichten Sehbeteiligungen überschaubar, denn im Schnitt hatten lediglich 2,09 Millionen Menschen eingeschaltet. Dies entsprach sowohl unter allen Zuschauern, als auch in der werberelevanten Zielgruppe einem knapp zweistelligen Marktanteil. Wohl auch deswegen verschwand der Vorfall schnell wieder im Schleier der Vergessenheit.

„Das Selbstmord-Video“ löste trotz seiner Drastik und absichtlichen Provokation lediglich eine kurze Empörung, aber keine nachhaltige Diskussion aus – weder über die Sterbehilfe noch über moralische Grenzen im Fernsehen. Stattdessen sorgte später ein Bericht des Magazins für Aufregung, in welchem dem Moderator Thomas Gottschalk aufgrund einiger dubioser Zufälle eine Mitgliedschaft bei Scientology unterstellt wurde. Was für eine Aussage.

Die nächste Ausgabe des Skandalfriedhofs erscheint am Donnerstag in zwei Wochen und widmet sich dann dem pietätlosen Auftritt eines Talkshowmoderators nach einem tödlichen Amoklauf.
07.08.2014 11:05 Uhr  •  Christian Richter Kurz-URL: qmde.de/72307