TV 2.0: Wie Internetformate das Fernsehen retten können

Das lineare Fernsehen befindet sich auf dem absteigenden Ast, die Sehdauern gehen zurück. Unterdessen gewinnen Formate auf Internetplattformen wie YouTube an Interesse und sind ein Beispiel dafür, woran sich das Fernsehen halten muss, um zu bestehen.

Der Mensch liebt Bequemlichkeit. Deshalb arbeitete er im Laufe seiner Geschichte auch stets daran, die Dinge zu vereinfachen. Das Auto nimmt ihm Laufwege ab, Telefone und das Internet revolutionierten Kommunikation und mit dem Fernsehen hielt eine Erfindung Einzug, die es möglich machte Information und Unterhaltung auf die einfachste Art und Weise zu erfahren. Doch die Menschheit hört nicht auf, weiter an Gadgets, technischen Neuerungen und Programmen zu arbeiten, die ihren Nutzern noch mehr Freiheiten ermöglichen. Zwar ist der Begriff „Couch Potatoe“ noch immer als Bezeichnung für einen sehr bequemen Menschen gängig, die Fernsehcouch könnte in Sachen Komfortabilität jedoch bald vom Schreibtischstuhl ersetzt werden, auf dem sich Internet-Nutzer Inhalten aus Streams, Mediatheken oder Video on Demand-Diensten aussetzen. In der Bezeichnung „lineares Fernsehen“ schwingen nämlich im Subtext immer noch Eintönigkeit und Fremdbestimmung mit, schließlich legt der ausstrahlende Sender selbst die Programmierungen fest.

Eine Vielzahl der Fernsehenden in den USA geben sich damit bereits nicht mehr zufrieden und schaffen dieser Tage verstärkt mit zeitversetztem Fernsehen über Digital Video Recording (DVR) ihre eigene Primetime. Würde man die DVR-Ausstrahlungen als ein eigenes Network sehen, läge das zeitversetzte Fernsehen auf Platz eins aller US-Sender. Die Ratings, die durch den DVR-Konsum verbucht werden, sind so groß wie der Durchschnitt der vier großen Networks (NBC, CBS, FOX, ABC) zusammengenommen. DVR hat in Deutschland noch nicht annähernd die Popularität erreicht wie in den USA, der Trend geht hierzulande hin zu Inhalten aus dem Internet.

Das liegt an einem weiteren Faktor, der Serienfans am linearen Fernsehen stört. Sie wollen nicht nur die Macht darüber haben, welches Format sie gerade sehen, auch missfällt es ihnen, sich in Geduld üben zu müssen. Über Nacht wird eine in den USA gerade erst angelaufene Serie zum Hype, der durch das Internet schnell nach Europa überschwappt. Free-TV-Nutzer dürfen danach aber erst einmal bis zu einem Jahr warten, bis das Format auch im deutschen Fernsehen angekommen ist – für viele eine zu lange Wartezeit. Daher nehmen Internetnutzer eine deutlich schlechtere Qualität von Internet-Streams in Kauf, um sich die US-Serien zu Gemüte zu führen. Pay TV-Nutzer haben mittlerweile zumindest die Möglichkeit, die Ausgaben im Originalton kurz nach US-Start über Services wie Sky Go abzurufen, ein Abo für Bezahlfernsehen ist vielen jedoch zu kostspielig. So erklären sich auch die niedrigen Marktanteile von Qualitätsserien wie «House of Cards» (Foto) und «Breaking Bad» im deutschen Free-TV, die zu einer Zeit anliefen, als Interessierte schon eine Sichtung über andere Plattformen wahrnahmen, während die deutsche Serie im Phlegma verharrt.

Hinzu kommen die immer lauter werdenden Beschwerden über das deutsche Fernsehprogramm an sich. Zu oft ziehen Verantwortliche Massenware den Qualitätsformaten vor, weil letztere quotentechnisch zu wünschen übrig ließen. So bringen Programmverantwortliche Sendungen nach bewährtem Konzept an den Start, ohne viel dabei zu wagen. Zu attraktiven Sendezeiten belebte allein Sat.1 in dieser Saison mehrere alte Formate wie «Die perfekte Minute», «Deal or no Deal» oder «Nur die Liebe zählt» wieder, während viele Programme mit frischem Konzept baden gingen. Unterdessen muss der gefeierte und unkonventionelle «Tatortreiniger» im NDR jedes Jahr um eine neue Staffel bangen und bekommt dann doch nur einen Programmplatz am späten Abend zugesprochen.

Sehdauern pro Tag: 2011 vs. 2014

2011 (Quelle ARD/ZDF):
- ab 3 Jahren: 229 Minuten
- 14-29 Jahre: 132 Minuten
- 30-49 Jahre: 220 Minuten
- ab 50 Jahren: 310 Minuten

2014 (Quelle: Quotenmeter.de):
- ab 3 Jahren: 201 Minuten
- 14-29 Jahre: 118 Minuten
- 30-49 Jahre: 228 Minuten
(Erhebungszeitraum während des Sommers, daher mit Vorsicht zu genießen)
Immer mehr Menschen wenden sich in der Folge vom Fernsehen ab, das belegen auch die durchschnittlichen Sehdauern. Nach einer Onlinestudie von ARD und ZDF nutzten die Deutschen im Jahre 2011 noch 229 Minuten am Tag das Medium Fernsehen, dabei belief sich das Mittel der 14- bis 29-Jährigen schon dort auf nur 132 Minuten, während die 30- bis 49-Jährigen etwa 220 Minuten am Tag fernsahen und Personen ab 50 über 300 Minuten täglich. Bis 2014 nahmen die Sehdauern weiter ab. Quotenmeter.de analysierte die Sehdauern im Jahre 2014 über mehrere Sommerwochen und kam zu folgendem Ergebnis: Nur noch etwa 200 Minuten Fernsehen schaut der Durchschnittsbürger ab drei Jahren am Tag. Die mittlere Sehdauer bei den 14- bis 29-Jährigen schrumpfte auf 117,5 Minuten; noch deutlichere Verluste standen im Falle der 30- bis 49-Jährigen fest, die im Schnitt noch 198 Minuten einschalteten, dabei fielen in den Zeitraum auch reichweitenstarke Übertragungen wie Fußball-Länderspiele, das Finale von «How I Met Your Mother», die Rückkehr des «Tatort» aus der Sommerpause oder Spielfilme wie «Men in Black III». Auch laut der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung waren die durchschnittlichen täglichen Fernsehdauern ab 2011 erstmals seit Jahren wieder rückläufig.

Stattdessen konsumiert ein Großteil der Jugendlichen mittlerweile seine Inhalte im Internet. Die Anzahl der Onlinenutzung stieg zwischen 1997 und 2011 von 6,5 Prozent auf 73,3 Prozent an (in Zahlen: von 4,1 Mio. auf 51,7 Mio. Personen), wobei 2011 schon fast zwanzig Prozent der Nutzer Video-, TV- oder Radioinhalten nachgingen. So lassen sich aktuelle Trends erklären. Beispielsweise sahen schon kurz nach Beginn des Formats mehr Menschen das «Neo Magazin» zeitversetzt in der ZDF-Mediathek als live. Besonders bei Formaten, die für jugendliche konzipiert sind, geht die Tendenz hin zur Internetsichtung. Ein Großteil der jungen Menschen, die dem Fernsehen den Rücken kehren, finden sich auch auf Plattformen wie YouTube wieder. Dort stellen Channels wie „Gronkh“, „Ungespielt“ und „PietSmiet“ einige der erfolgreichsten Channels dar. Gemeinsam haben diese drei Kanäle, dass sie sich mit Videospielen beschäftigen, ein Thema, das im deutschen Fernsehen bisher schwer behandelbar war.

Lediglich «Game One» hielt sich, neben EinsPlus‘ noch relativ frischer Sendung «Reload», als Fernsehsendung mit Gaming-Thematik, andere Formate wie etwa ZDFs «Pixelmacher» wurden rasch abgesetzt, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass Fernsehverantwortliche die Zeichen der Zeit aufgrund von zu wenig Risiko nicht erkennen. YouTube zeigt sich wesentlich toleranter als die Fernsehschaffenden und gibt jedem Content die Chance zur Veröffentlichung, der nicht gegen die Community-Richtlinien verstößt. Mit der Abwanderung vieler Fernsehender ins Internet könnten anspruchsvolle YouTube-Formate generell häufiger werden. YouTube macht Kanäle ab einem bestimmten Beliebtheitsgrad, der durch mehrere Parameter erfasst wird, zu Partnern und schüttet den Kanälen pro tausend Klicks einen Geldbetrag aus, von dem die meisten YouTuber bislang noch nicht leben können. Bei mehr YouTube-Nutzern und mehr Klicks könnte sich dies bald ändern.

Mit fast 150.000 Abonnenten befindet sich unter anderem Rocket Beans TV unter den beliebtesten Kanälen in Deutschland. Der Channel, der vom Produktionsunternehmen Rocket Beans Entertainment der «Game One»-Macher stammt, rangiert damit in Sachen Abonnenten jedoch nicht einmal ansatzweise in den Top 100. Dennoch ist der Channel ein leuchtendes Beispiel dafür, wie „Fernsehen im Internet“ heutzutage auf anspruchsvolle Art und Weise funktionieren kann und gleichzeitig dafür, wie schwer es ist, ein originelles Format an einen Sender zu pitchen. Im Frühjahr 2013 schuf das Rocket Beans-Team den Piloten zum neuen Format „Quelle: Internet“. Darin arbeiteten die «Game One»-Moderatoren Simon Krätschmer, Daniel Budiman, Etienne Gardé und Nils Bomhoff popkulturelle Themen wie Memes, Kim Dotcom und Viral Video Exchange auf. Der deutsche Fernsehsender, der die Produktion in Auftrag gab, lehnte die Sendung jedoch ab. Daraufhin veröffentlichte das Team den Piloten auf seinem YouTube-Channel, wo dieser prompt in der Informationskategorie des Webvideopreises 2014 gewann. Wer weiß, was bei einer regelmäßig laufenden Fernsehsendung möglich gewesen wäre?

Darüber hinaus veröffentlichen die „Raketenbohnen“ regelmäßig Formate wie „Schröcks Fernsehgarten“ und „Kino+“, die sich mit Film und Fernsehen beschäftigen. Auch Talkformate wie «Zock n‘ Talk» und «Almost Daily» pflegt das Team um die ehemaligen GIGA-Moderatoren. Der Unterschied zu den meisten anderen YouTube-Formaten liegt dabei in der Länge und im Schnitt. Während andere YouTuber auf kurze Videos mit Jumpcuts setzen, umfassen Rubriken wie „Almost Daily“ gerne mal bis zu 75 Minuten ohne einen einzigen Schnitt und kommen mit diesem Live-Charakter traditionellen Fernsehformaten sehr viel näher als handelsübliche YouTube-Formate mit Moderation. Besonders letzterer, von der Location her sehr reduzierter Talk über alltägliche Themen, Lebenserfahrungen und Popkultur besticht durch eine Gesprächskultur und unterhaltsame Geschichten, die sich die meisten Fernseh-Talks wünschen würden.

Rocket Beans TV könnte als Leitfaden moderner Fernsehformate dienen. In Sachen Interaktivität bemühten sich zuletzt immer mehr Sender, den Zuschauer mehr miteinzubeziehen, was im Übrigen auch notwendig ist, damit Zuschauer dem linearen Fernsehen treu bleiben. Fast alle diese Sendungen avancierten jedoch zu einem Misserfolg für ihren Sender, zuletzt «Rising Star» bei RTL. Unterdessen fährt Rocket Beans TV erfolgreich mit seinen Strategien, dem Zuschauer mehr Mitspracherecht zuzugestehen. An etlichen Stellen versuchen die «Game One»-Moderatoren im Zuge des Channels Nähe zu ihren Abonnenten zuzulassen und schaffen dadurch eine Transparenz, deren Mangel bei den meisten Unterhaltungsshows im TV beklagt wird.

Über RocketBeansTV

RocketBeansTV ist ein YouTube-Channel und baldiger Internetsender über Videospiele, Filme und Popkultur von den «Game One»-Schöpfern, hinter denen über 300 Folgen ihres Videospielmagazins im Fernsehen liegen. Hinter dem Kanal steht das Medienproduktionsunternehmen Rocketbeans Entertainment, das 2011 von Simon Krätschmer, Etienne Gardé, Nils Bomhoff, Daniel Budiman und Arno Heinisch gegründet wurde.
Um neben der sehr aktiven Internetseite „GameOne.de“ noch stärker in Interaktion mit den Nutzern zu treten, streamten sie die hundertste Folge von «Almost Daily», ähnlich wie der TV-Sender joiz, beispielsweise live mit einer Twitter-Wand, auf der Zuschauer ihre Eindrücke hinterlassen konnten. Innerhalb von wenigen Minuten avancierte der Hashtag zum Live-Stream zu einem Trending Topic, was bei Hashtags, die von Rocket Beans TV ins Leben gerufen wurden inzwischen häufiger der Fall ist. Ähnliches geschah im Zuge des Rollenspiel-Formats „Pen & Paper“, während dem Live-Zuschauer über Geschehnisse innerhalb der Spielgeschichte abstimmen durften. Darüber hinaus verstehen es die Rocket Beans, die einzelnen Präsenzen gekonnt miteinander zu verzahnen, sodass der Grimme Award ausgezeichnete Internet-Auftritt „Gameone.de“, Rocket Beans TV und «Game One» sich gegenseitig zu mehr Bekanntheit verhelfen.

Will das Fernsehen einen weiteren Rückgang der linearen Zuschauer verhindern, müssen sie von innovativen Angeboten wie Rocket Beans TV auf YouTube lernen. Um den bedenklichen Trend der rückläufigen Sehdauern zu stoppen, muss das Fernsehen verstärkt Live-Charakter und interaktive Elemente besitzen, die es notwendig machen, die Sendungen auch linear zu verfolgen. Darüber hinaus sollten sich die Fernsehsendungen ihren Zuschauern mehr öffnen und den Zuschauern so nah wie möglich sein, damit eine treue Community entsteht. Dass die ersten Gehversuche der Fernsehsender in dieser Angelegenheit fehlschlugen, zeigt, dass Sender mehr Augenmerk auf die internen Ressorts legen müssen, welche sich mit Social Media, Apps und Co. beschäftigen, um Strategien zu schaffen, die funktionieren. Gerade dieser Tage lassen Branchenbeobachter ihrem Missmut gegenüber Social TV und Appwahnsinn freien Lauf, dabei wurde Derartiges vor einem Jahr noch angepriesen. Nach wie vor gilt: Bei einer richtigen Umsetzung können diese Sendestrategien das lineare Fernsehen revolutionieren und damit retten.
Wie konsumieren Sie audiovisuelle Medien?
Das Fernsehen ist für mich nach wie vor dafür das einzige Medium.
1,0%
Hauptsächlich durchs Fernsehen, nur vereinzelt im Internet.
4,3%
Fernseh- und Internetnutzung hält sich dafür bei mir die Waage.
10,5%
Vorwiegend im Internet, Fernsehen nur noch am Rande.
50,5%
Fernsehen hat bei mir ausgedient. Ich setze nur noch auf Internet.
33,7%
21.09.2014 10:28 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/73251