Schirach schlägt wieder zu

«Schuld» setzt da an, wo die Vorgängerserie «Verbrechen» aufgehört hat - und macht damit alles richtig.

Darsteller

Moritz Bleibtreu als Friedrich Kronberg

Folge 1: Der Andere
Bibiana Beglau als Lissy Paulsberg
Devid Striesow als Thorsten Paulsberg

Folge 2: Schnee
Hans-Michael Rehberg als Karl-Heinz Gronau
Aylin Tezel als Jana

Folge 3: Die Illuminaten
Jörg Hartmann als Johannes Deittert
Max Hegewald als Henry

Folge 4: Ausgleich
Anna Maria Mühe als Alexandra
Benjamin Sadler als Thomas

Folge 5: DNA
Alina Levshin als Nina
Misel Maticevic als Thomas Deggert

Folge 6: Volksfest
Adrian Topol als Claus Jakobi
Helga Wretman als Marion Nolting
Keine Frage: «Verbrechen» hat vor knapp zwei Jahren neue Maßstäbe in Puncto serielles Erzählen im deutschen Fernsehen gesetzt. Dicht, spannend, unprätentiös, intelligent, emotional, nicht aufdringlich, nicht anbiedernd, das sind Attribute, mit denen sich nur sehr wenige deutsche Serien beschreiben lassen. Seitdem kam nicht mehr viel: Die innovativen, gut erzählten Serienstoffe musste man lange suchen, sofern es da überhaupt etwas zu finden gab.

Also muss es wieder Ferdinand von Schirach retten, dessen Kurzgeschichtenband „Schuld“ mit der nun vorliegenden sechsteiligen gleichnamigen Serie für das ZDF verfilmt wurde. Die Geschichten und thematischen Untersuchungsfelder ähneln denen, die man von «Verbrechen» kennt:

Die Ehe eines gut situierten Paares (wunderbar feinfühlig gespielt von Devid Striesow und Bibiana Beglau) gerät ins Wanken, als es mit einer neuen erotischen Spielart beginnt: Sie hat Sex mit Fremden und er sieht dabei zu. Die Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang, Macht und Ermächtigung verschwimmen allmählich – bis er am Schluss einen der Liebhaber mit einem Aschenbecher niederschlägt.

Ein alter, verwahrloster Mann wird bei einer Razzia in seiner Wohnung festgenommen. Bei ihm werden größere Mengen Heroin und ein Messer sichergestellt. Doch niemand, weder sein Verteidiger noch der Richter noch der Staatsanwalt, können sich vorstellen, dass der Angeschuldigte ein Dealer ist. Dieser verweigert aber konsequent jegliche Aussage. Er will die wahren Täter schützen, die in seiner Wohnung im großen Stil Drogen gestreckt haben. Denn die sind immer gut zu ihm gewesen – und in der schwangeren Partnerin von einem der Dealer kontrastiert sich auf einnehmende Weise seine eigene Lebensgeschichte.

Eine Paarbeziehung (diesmal Benjamin Sadler und Anna Maria Mühe) degeneriert zur Gewaltkaskade: Der Mann fängt an, seine Frau zu schlagen, sie zu vergewaltigen. Jahrelang. Als vor Gericht ihre zahlreichen Verletzungen verlesen werden, die sie in ihren Ehejahren erlitten hat, stockt auch den weniger zart Besaiteten der Atem. Doch auf der Anklagebank sitzt nicht er, sondern sie. Sie soll ihren Mann im Schlaf mit einer Statue erschlagen haben, weil er gedroht hat, in Kürze die gemeinsame zehnjährige Tochter zu missbrauchen.

Der Internatsschüler Henry wird jahrelang von seinen Mitschülern tyrannisiert. Nur zu seiner sechzigjährigen Kunstlehrerin kann er ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Seine Zeichnungen sind künstlerisch hoch wertvoll, Henry hat ohne Zweifel eine außergewöhnliche Begabung. Im Jugendalter wird sein Verhältnis zu seinen Mitschülern komplexer: Die lehnen ihn immer noch ab, eine Gruppe von ihnen lebt jedoch in der Wahnvorstellung, in der Tradition der Illuminaten zu stehen. Henry soll für seine Sünden büßen, dann könne auch er in den Geheimbund aufgenommen werden. Um das vollziehen zu können, muss er jedoch einen Exorzismus über sich ergehen lassen, den er nur knapp überlebt.

Berlin 1997: Das Obdachlosenpaar Nina und Thomas, gespielt von Misel Maticevic und Alina Levshin, wird am Weihnachtsabend von einem Passanten in seine Wohnung eingeladen, weil der die Feiertage nicht alleine verbringen will. Sie nehmen die Einladung an, doch als Nina in der Wohnung ein Bad nimmt, masturbiert er vor ihr. Im Schock schreit sie um Hilfe, woraufhin Thomas, zum Zorn gereizt, mit Ninas Hilfe den Kopf des Perversen so lange unter Wasser drückt, bis der Mann leblos liegen bleibt. Und man glaubt ihnen, dass sie erst nach vollendeter Tat umreißen, was sie gerade getan haben. Die Polizei spürt beide auf, befragt sie kurz, lässt sie wieder laufen. Von den achttausend Mark, die sie aus der Wohnung des Alten entwendet haben, bauen sie sich ein neues Leben auf: ziehen in ein Zuhause, heiraten, finden Jobs, kriegen Kinder. Bis sie eines Tages, nach vielen Jahren, ein Brief des Polizeipräsidenten erreicht: Sie sollen eine DNA-Probe abgeben. Und werden als Täter überführt. Die sentimentalste Episode der Serie.

Strafverteidiger Friedrich Kronbergs erster Fall, erzählt in der Folge „Volksfest“: Er ist mit Abstand der brutalste, den «Schuld» zeigt: Auf einem Volksfest fällt eine Musikergruppe über eine siebzehnjährige hübsche Kellnerin her. Sie vergewaltigen die junge Frau bestialisch, verletzen sie schwer und verstecken sie unter Holzplanken in einer Scheune. Doch einer der Musiker alarmiert die Polizei, während die Tat noch im Gange ist. Die Polizei findet das Opfer schließlich einsam unter den Brettern liegend vor; durch die Inkompetenz der Beamten lassen sich aber keine verwertbaren Spuren sichern. Fest steht: Einer der Musiker war nicht an der Tat beteiligt und muss deshalb freigesprochen werden. Kronbergs Strategie ist einfach: Wenn alle die Aussage verweigern, kann keiner der Männer verurteilt werden.

Hinter den Kulissen

Produktion: MOOVIE - the art of entertainment
Drehbuch: Jobst Christian Oetzmann, André Georgi, Nina Grosse und Jan Ehlert
nach den Kurzgeschichten von Ferdinand von Schirach
Regie: Hannu Salonen und Maris Pfeiffer
Kamera: Hanno Lentz
Produzent: Oliver Berben
Der letzte Fall mag besonders verstörend sein, offenbart aber mit am treffendsten, wie intelligent, vielschichtig und relevant «Schuld» über die Themen Recht und Gerechtigkeit, sowie die Spannungsfelder zwischen diesen beiden Begriffen reflektiert. Die acht Männer, die sich an der jungen Frau vergangen haben, sind nämlich gesellschaftlich bestens in die dörfliche Gemeinschaft integriert, Handwerker, Banker, liebende Familienväter, gute Ehemänner. Auch der bestialische Täter ist in «Schuld» nicht „der andere“, ein merkwürdiges Subjekt, das sich zumeist außerhalb des gesellschaftlichen Kerns bewegt, wie in zahlreichen anderen deutschen Fernsehserien und –filmen. Stattdessen kommen auch die grausamsten Gewaltverbrecher in «Schuld» aus der Mitte der Gesellschaft, sind unsere Nachbarn, unsere Kollegen, unsere Freunde, unsere Mütter, unsere Väter, unsere Partner.

Das bedeutet nicht, dass einem die Täter sympathisch sein müssen. Nein, damit hat auch Friedrich Kronberg zu kämpfen. Doch sein Job ist klar: Unverrückbar an der Seite seiner Mandanten zu stehen. «Schuld» entwirft ein ähnlich unverklärtes Bild auf den Anwaltsberuf wie die Vorgängerserie «Verbrechen», eines, das frei ist von prätentiösem Gefuchtel, das starke Verteidiger nicht als „Anwälte des Verbrechens“ zeichnen will, um dem unreflektierenden Pöbel nach dem Mund zu reden und billige Sympathien abzuräumen. Kronberg mag hin und wieder tatsächlich in den Konflikt mit seinem Gewissen geraten, wenn er Männer aus dem Knast bringen soll, die mit großer Wahrscheinlichkeit brutale Vergewaltiger sind. Aber «Schuld» gibt dieser Figur Raum, diese Dilemmata intelligent zu ergründen und zu diskutieren und kommt – anders als das Gros der hierzulande produzierten Fiction – zu rechtsstaatlich vertretbaren Ergebnissen. Oder, wie es Ferdinand von Schirach in einem Statement zur Serie formulierte: „Das Böse ist ein schneller Begriff, er hat etwas blitzartiges, ein ganzes Urteil in einem einzigen Wort. Strafverfahren sind das Gegenteil. Sie sind langsam, behäbig und lustlos, die Justiz wirkt zu träge, zu vorsichtig. Aber immer wenn sie sich anders verhält, passieren Katastrophen.“

Dabei ist Friedrich Kronberg als ein grundsätzlich sehr netter Mann angelegt, dessen Nettigkeit dank Moritz Bleibtreu aber nie aufgesetzt wirkt, nie ins Schmierige geht, sondern authentisch bleibt. Sein Spiel ist eine Wucht. Ähnlich toll sind auch die Nebenrollen besetzt, deren Darstellern «Schuld» reichlich Raum für Zwischentöne gewährt. Das kommt insbesondere den Schauspielern zugute, die man zuletzt in Produktionen sah, die sich weit unter ihrem künstlerischen Niveau bewegten. So gefällt Alina Levshin in ihrer «Schuld»-Episodenrolle tausendmal besser als in ihren missglückten «Tatorten». Gleiches gilt für Misel Maticevic, den man um einiges lieber in emotional wie intellektuell komplexen Stoffen sieht als in seiner klischeehaften «Zorn»-Reihe. Fast alle laufen sie hier zur Höchstform auf.

Produzent Oliver Berben ist mit «Schuld» dem aus «Verbrechen» bekannten Stil treu geblieben. Die zweifellos emotional aufwühlenden Geschichten werden ohne penetrante Überdramatisierungen erzählt, man verzichtet auf all das laute Gepolter und Gekeife, das viele deutsche Serienproduktionen im Krimi- und Thriller-Genre so unerträglich macht. Das Ergebnis spricht für sich: «Schuld» ist wesentlich dichter an seinen Figuren als vergleichbare Produktionen, nahbarer, packender, mitreißender. Intelligenter sowieso. Ein Durchbruch wie «Verbrechen».

Wenn das Serienjahr auch nur ansatzweise so weitergeht, kann uns das nur optimistisch stimmen.

Das ZDF zeigt sechs Folgen von «Schuld» freitags ab dem 20. Februar um 20.15 Uhr. Ab dem 6. Februar sind alle Folgen bereits in der ZDF-Mediathek abrufbar.
06.02.2015 11:00 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/76175