'Jeder hat ein Recht zu lieben'

Die Kritiker: «Tatort – Borowski und die Kinder von Gaarden»: Der keinerlei Verständnis für Ignoranz und Gleichgültigkeit zeigende Kieler Ermittler bekommt es dieses Mal mit Kinderarmut und den Zuständen in einem sozialen Brennpunkt zu tun.

Cast und Crew

  • Regie: Florian Gärtner
  • Drehbuch: Eva Zahn, Volker A. Zahn
  • Darsteller: Axel Milberg, Sibel Kekilli, Tom Wlaschiha, Bruno Alexander, Amar Saaifan, Samy Abdel Fattah, Julia Brendler, Thomas Kügel, Mert Dincer
  • Kamera: Gunnar Fuß
  • Szenenbild: Isolde Rüter
  • Schnitt: Bernhard Wießner
  • Musik: Birger Clausen
Zu Beginn des Jahres musste sich Borowski ins Drogenmilieu begeben. Dort bekam es der Kieler Ermittler mit der Modedroge Crystal Meth zu tun – sowie mit einem immensen Publikumsandrang: «Borowski und der Himmel über Kiel» wurde Ende Januar zum ersten Zehn-Millionen-«Tatort» des Jahres 2015 (wir berichteten), ein weiteres Testament dafür, dass Axel Milberg ein echter Zuschauerliebling ist. Fälle wie Borowskis Ermittlungen im Kieler Problembezirk Gaarden zeigen auch auf, weshalb: Den Autoren Eva und Volker A. Zahn gelang mit diesem Neunzigminüter eine glaubwürdige, wenngleich dramatisch überspitzte, Milieustudie im Gewand einer Kriminalgeschichte. Hinzu kommt, dass Regisseur Florian Gärtner dem Hauptdarsteller Milberg sowie seiner Ermittlerkollegin Sibel Kekilli alias Sarah Brandt genügend Raum gibt, non-verbal zu agieren – und schon lassen sich die gelegentlichen schwafelig-banalen Ausgaben der Kieler «Tatort»-Reihe wohlwollend vergessen.

Borowskis neuster Einsatz, für den sich die ursprünglich als Journalisten tätigen Autoren von einem realen Fall haben inspirieren lassen, nimmt seinen Anfang, als der Hartz-IV-Empfänger Onno Steinhaus erschlagen wird. Der verwahrloste 60-Jährige war wegen Kindesmissbrauchs vorbestraft. Trotzdem ließen seine Nachbarn ihre Sprößlinge bei ihm ein und aus gehen, und die Kinder sollen es bei ihm angeblich stets toll gefunden haben. Denn er erlaubte es ihnen, sich zu raufen, sich zu besaufen oder auch, sich Pornos anzugucken. Förmlich jeder in der Siedlung wusste davon, sogar das Jugendamt bekam von der Sache Wind – doch niemand schritt ein. Kommissar Borowski steht also vor einem Rätsel: Unter normalen Umständen würde es an Tatmotiven wahrlich nicht mangeln, aber bei der in Gaarden vorherrschenden Gleichgültigkeit sieht es wieder anders aus. Dann aber stößt Borowski auf den 14-jährigen Timo Scholz, der angeblich wenige Tage zuvor missbraucht wurde …

Problemkrimis, die in sozialen Brennpunkten spielen, müssen stets dagegen ankämpfen, zu einer eindimensionalen Karikatur der dargestellten Milieus zu verkommen oder ihr Publikum mit unausstehlichen, ennervierenden Figuren zu verprellen. Nur wenn diese potentiellen Ärgernisse vermieden werden, kann das zentrale Thema überhaupt erst seine volle Wirkung entfalten. Erfreulicherweise vermeidet das Skript besagte Makel – und weiß sogar, gelegentliche humorvolle Situationen einzubauen, ohne dass diese aufgesetzt wirken. Wenn Borowski sich mit ganz jungen Zeugen zu verständigen versucht, kommt es in diesem Neunzigminüter mehrmals zu kurzen Missverständnissen, durch welche die Dialoge an Authentizität und Witz gewinnen. Durch diese Echtheit kann das dominierende dramatische Element dieses Sozialkrimis eine noch eindringlichere Wirkung erzielen – es müssen eben nicht die dauerrüpelnden, überhippen Jugendlichen sein, die viele ähnliche öffentlich-rechtliche Problemfilme bevölkern.

Zahn und Zahn lassen in ihren Fall dessen ungeachtet die Ergebnisse ihrer Recherchearbeiten einfließen und zeichnen ein facettenreiches, betrübliches Bild von Familien und vor allem von Kindern, die unter der Armutsgrenze leben. Dabei verzichten sie und Regisseur Gärtner aber darauf, ununterbrochen die Betroffenheitsmasche zu versuchen. Stattdessen skizzieren sie in knappen, aber geschliffenen Dialogen und vielen, stillen Bildern komplexe, unbequeme Charaktere und die widersprüchlichen, doch effektiv ineinandergreifenden Mechanismen, die solch einen Mikrokosmos wie Gaarden aufrecht erhalten. Die obligatorische Gegenüberstellung des Falls und des Innen- oder Privatlebens der Ermittler verkürzt dieser Fall glücklicherweise auf vielsagende Reaktionen Borowskis und Brandts. Da sie keinen ausgewachsenen Subplot erhalten, bleibt mehr Raum für die zentralen Fragen dieses Fernsehfilms, zudem verlagert sich so die Aufgabe der Charakterentwicklung bei den Ermittlern primär auf die Darsteller – und dass diese es beherrschen, allein durch ihren Gestus auszudrücken, was das Gesehene und Besprochene mit ihnen macht, sollte außer Frage stehen.

Trotzdem hält das beim «Tatort» nahezu unvermeidliche Storymodell der Mördersuche, das auch hier zum Zuge kommt, den Film lange hinter seinen wahren Möglichkeiten zurück. Die zielstrebigen, ernsten Verhöre gehören in den ersten 70 Minuten zu den uninteressanteren Dialogpassagen dieses Fernsehfilms, da es ihnen an Biss fehlt. Aber dann kommen die finalen 20 Sendeminuten daher, in denen Regisseur Gärtner und Cutter Bernhard Wießner den Druck erhöhen und im Gegenzug die visuelle Distanz fallen lassen. In diesen Minuten erfährt der Zuschauer auch mehr über den Polizeibeamten Torsten Rausch, unter die Haut gehend gespielt von Tom Wlaschiha, und kommt dank ihm zudem in den Genuss finsterer, doppelbödiger Dialogwechsel.

Unterm Strich bleibt eine Milieustudie, die sich gern noch stärker von der Whodunnit?-Struktur hätte lösen können, aber umso mehr mit ihrer empathischen, klischeefreien und schonungslosen Charakterzeichnung überzeugt. So ist er am besten, der Kieler «Tatort»!

«Tatort – Borowski und die Kinder von Gaarden» ist am 29. März 2015 ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
27.03.2015 10:55 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/77173