Die Macher reagieren in diesen Tagen auf die anhaltende Fankritik – und verlieren sich irgendwo im Nirgendwo. Die 19-Uhr-Serie schwankt zwischen Real-Soap und Reality-Show und taumelt von einem Tief ins Nächste.
«Newtopia» im Wochencheck
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Durchschnittlicher Wochenmarktanteil bei Zuschauern 14-49 Jahre, in Prozent
Ob es John de Mol wirklich interessiert, was in diesen Tagen auf dem deutschen Markt mit seiner Show
«Newtopia» passiert? Der Erfinder des Formats und frühere Inhaber der Produktionsfirma Talpa hat eben diese drei Wochen nach Sendestart in Sat.1 für vermutete 500 Millionen Euro an die ITV Studios verkauft. Der Firma wolle er erhalten bleiben und weiter neue Ideen entwickeln, hieß es damals. «Newtopia» also hatte den Zweck erfüllt. Nachdem es 2014 gelang das Format dauerhaft beim kleinen Holland-Kanal SBS6 zu etablieren, floppte die US-Version und verschwand nach wenigen Wochen in Versenkung. Nach einem guten Start in der Türkei war nun vor allem die Reaktion des deutschen Marktes wichtig.
Der große Jubel, den die einst 17 Prozent zum Auftakt und nach drei Wochen auch weitere stets zweistellige Werte ausgelöst hatten, ist inzwischen längst einer großen Verzweiflung gewichen. Die Branchendienste müssen in diesen Tagen immer neue Negativ-Rekorde vermelden, inzwischen ist das 19-Uhr-Format von Sat.1 nicht nur unterhalb des Senderschnitts angekommen, es ist sogar in den meisten Fällen das schwächste Glied am Vorabend des Münchner Kanals. Es ist eine relativ beispiellose Talfahrt, die die Show hingelegt hat, die höchstens noch an die inhaltlich verpatzte erste Staffel von «Promi Big Brother» im Jahr 2013 erinnert.
Das Beispiel des zu Sat.1 gewechselten großen Bruders, der 2014 dann mit neuen Leuten hinter der Kamera, anderer Erzählweise und natürlich anderen Promis regelmäßig an die 20 Prozent holte und somit zum Sommer-Hit der vergangenen Season wurde, zeigt gut, wie viele Stellschrauben bei einem Reality-Projekt ineinandergreifen müssen. Bei «Newtopia» aber knirscht es an etlichen Ecken und Enden – und der aufmerksame Beobachter wird das Gefühl nicht los, dass die hektischen und offenbar von der Marktforschung getriebenen Rettungsversuche von Senderseite die Lage nur noch schlimmer machen.
Eine der erste Reaktionen aus Unterföhring, die in Königs Wusterhausen ankam, war die Anweisung, schneller in die Sendung zu starten. Schon nach drei Wochen wurde der komplette Vorspann und der anfängliche Rückblick auf das Geschehen bisher gestrichen. Auch die in solchen Formaten eigentliche Vorschau auf die startende Ausgabe wurde auf ein Minimum an Zeit begrenzt. Zu rechtfertigen ist dies mit dem Dauervorwurf seitens der Fans, die Tageszusammenfassungen in Sat.1 hängen dem Geschehen im Live-Stream zu weit hinterher (teilweise 5 Tage!). Die knappe Sendezeit von zwischen 44 und 47 Minuten sollte bestens genutzt werden. Und so hetzen Sat.1 und Talpa neuerdings regelrecht durch jede einzelne TV-Sendung.
Wilde Spekulationen
An den schon in der vergangenen und erneut in dieser Woche gestreuten Berichten, wonach Sat.1 intern schon einen Exit-Termin für die Show genannt hat, ist nach Quotenmeter.de-Informationen trotz der immer größeren Quoten-Schieflage rein gar nichts dran. Vielmehr stammen sie von einer fragwürdigen Internetplattform, deren Autoren mehr Geld verdienen, wenn ihre Artikel häufiger geklickt werden. In Wahrheit steckt der Privatsender derzeit alle Energie in die dauerhafte Fortführung von «Newtopia» - und ist angesichts solcher verbreiteter Lügen nicht sonderlich erfreut. Nicht nur die Geschwindigkeit, die an den Tag gelegt wird, ist überdenkenswert – sondern auch die Gesamtzusammenstellung. Sat.1 wie auch Executive Producer de Mol betonten von Beginn an, mit «Newtopia» eine Soap mit echten Menschen schaffen zu wollen. Inhaltlich erzählen sie seit kurzer Zeit aber einen schier undefinierbaren Themenbrei. Hatte man in den erfolgreichen ersten Wochen noch einige wenige Haupthandlungsstränge im Blick, wird inzwischen alles wahllos in die Sendung geworfen. Früher lag der Fokus lag auf der Errichtung einer neuen Gesellschaft, auf Bewohner Candy, der gern autonom leben würde – und auf „Kurzzeit-Events“ wie beispielsweise der Liebelei zwischen Dielza und Derk, die dann keine war und wurde – oder dem kurzzeitigen Auszug des blonden Models. Inzwischen muss der Zuschauer fast Buch führen, um noch durchzusteigen. Neben den diversen Festen und Geschäftsaktivitäten ging es jüngst ein bisschen um Karos Nikotin-Abhänigkeit, ein krankes Huhn, die Aufnahme eines Hundes im Land der Pioniere, die Aktion „5 Minuten für Deutschland“…
Auch hier dürfte das Publikumsfeedback dafür gesorgt haben, dass die Redakteure das einst eigenständige Konzept in ein Korsett zu pressen versuchen, das maßgeschneidert auf «Big Brother» ist. Die Unterschiede mögen zwar nur marginal sein, haben aber große Auswirkungen. Auch der große Bruder war in seinen Jahresstaffeln eine Soap mit echten Menschen – besonders deutlich wurde dies während der «Das Dorf»-Staffel. Jede Sendung – und darauf achtete der verantwortliche Rainer Laux penibel – hatte eine feste Struktur. Sie erzählte 24 Stunden im Leben der Bewohner und verfolgte eben feste Handlungsstränge.
Genau das will «Newtopia» eigentlich nicht – und so, wie John de Mol die Show konzipiert hatte, braucht es das auch nicht. Dann aber darf folgerichtig auch nicht auf das zurückgegriffen werden, was «Big Brother» den ein oder anderen Kick gab. Dusch-Sequenzen, wie sie in der «BB»-Daily üblich waren, haben entsprechend in «Newtopia» nichts verloren. Dennoch wurden sie jüngst getestet –raubten unter dem Strich nur Sendezeit und waren übrigens auch innerhalb der Sendung inhaltlich meist nur schwer zu integrieren. Angebote wie das eines Frisörs, 5000 Euro für Candys Haarschopf zu zahlen, wirken wie ein offensichtlicher Eingriff der Redaktion in das Geschehen in «Newtopia». Dass genau dies nicht passiert, war das große Versprechen des neuartigen Konzepts – und sollte ein Hauptunterschied zu «Big Brother» sein.
Der Cast hat’s nicht kapiert
Es ist ein ziemliches Dilemma, in dem die große Sat.1-Vorabendhoffnung, für die der private Sender eine Menge Geld in die Hand genommen hat, nach nur sechs Sendewochen steckt. Neben den selbst in der Redaktion und im Sender veursachten Problemen, hat sich auch die Zusammenstellung des Casts an zahlreichen Stellen als problematisch erwiesen. Kaum ein Teilnehmer hat den wirklichen Grundgedanken verstanden. Keiner will sich beim Aufbau der echten Gesellschaft mal richtig austoben – etwa ein Königreich oder eine Diktatur ausrufen. In Holland gab es innerhalb der 15 Monate, die das Format On Air ist, schon vier verschiedene Gesellschaftsformen. In Deutschland herrscht derweil „totales Chaos“, weil jeder eigentlich mehr bedacht ist, seine eigene Welt zu verwirklichen: Candy, der sich komplett abspaltet, die Finanzbeauftragten Peyman und Kalle, die ein bisschen das Zepter in der Hand halten, oder Neuling Sebastian, der Baumhäuser bauen und dann vermieten möchte.
Das ist aber nicht das Gründen einer neuen Einheit, sondern schlicht pure Selbstverwirklichtung. Und so ist es auch schwer zu sagen, ob man sich in der Redaktion freut, dass mit Karo am Mittwoch bereits der dritte Kandidat freiwillig aufgab. Zu viele Exits verwässern nämlich ebenfalls das Konzept eines täglichen Formats, weil die Zuschauer dann nicht mehr wirklich warm werden mit ihren Lieblingen.
Nach den jüngst gerade noch erreichten sieben Prozent Marktanteil und einer Reichweite von 1,4 Millionen ist die Kuh durch die inhaltlichen Entscheidungen schon ziemlich weit auf’s Eis geführt – und es erscheint durchaus fraglich, ob sie da wieder heil herunterkommt. Damit das gelingt, sind dringende Sofort-Maßnahmen erforderlich. Heißt: «Newtopia» muss strikt und rigoros zum von John de Mol erdachten Konzept zurückkehren. Zuletzt eingefügte Ideen wie Dusch-Sequenzen oder Geld-Challenges haben nichts in der Show zu suchen. Und die tägliche Tageszusammenfassung muss fokussierter, spannender und aufgeräumter erzählt werden. Kurzum: Das Format muss sich wieder dahin wandeln, wo es anfangs einmal war. Die Tatsache, dass binnen sechs Wochen die Hälfte der TV-Zuschauer flöten ging, zeigt, dass die Talpa-Produktion weit vom eigentlichen Pfad abgekommen ist und auch derzeit eher weiter den Wald hineinläuft als in Richtung einer Lichtung. Blöd für Sat.1 ist aber, dass zusätzliche Aufregung und Hektik, die durch den größer und größer werdenden Quotendruck am Produktionsort Königs Wusterhausen nun so gar nicht gebraucht werden kann.