It ain't over till it's over

Die neue Netflix-Serie «Bloodline» hat in dreizehn Folgen eine spannende Geschichte erzählt. Die nun eigentlich zu Ende ist. Trotzdem orderte der SVOD-Anbieter eine zweite Staffel. Ein Kommentar.

Die amerikanischen Kritiker sind sich weitgehend einig: «Bloodline» gehört zum Besten, was Netflix je produzieren ließ.

Die Serie dreht sich um die Familie Rayburn, deren Patriarch Robert seit Jahrzehnten mit seiner Frau Sally in den malerischen Florida Keys lebt und dort ein wunderschönes Strandhotel betreibt. Dort haben sie auch ihre Kinder großgezogen: Tochter Meg ist inzwischen Anwältin, Kevin ist Kleinunternehmer, John Kommissar im Sheriff’s Office und Danny ist das schwarze Schaf, das schon vor langer Zeit weggezogen ist und nur noch lose Kontakt hält.

Anlässlich der Widmung eines Kaiabschnitts für die Verdienste der Familie Rayburn wird aber auch Danny eingeladen und kommt zur großen Wiedersehensfeier. Von dort an brechen alte Wunden wieder auf, die ihren Ursprung in einem bis heute unverarbeiteten Trauma haben: Vor vielen Jahrzehnten, als Danny, John und Kevin noch im frühen Teenageralter waren, ist ihre Schwester Sarah bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Vater Robert gab Danny die Schuld am Tod seiner Tochter und richtete ihn im Tobsuchtsanfall so schrecklich zu, dass seine Verletzungen stationär behandelt werden mussten. Als die Polizei deswegen Ermittlungen aufnahm, deckten Meg, John und Kevin ihren Vater. Danny sei von einem Auto angefahren worden.

Lange wird Danny in «Bloodline» als sehr ambivalente Figur geführt: Kommt er nun, rund dreißig Jahre nach den traumatisierenden Ereignissen, zurück, um wieder Anschluss an seine Familie zu finden, um eine Aussöhnung in die Wege zu leiten und seinen unsteten Lebenswandel abzulegen? Oder sinnt er auf Rache und will die Familie ins Unglück stürzen, sie büßen lassen?


Ebenso ambivalent werden die Sympathien des Zuschauers gelenkt: Zu Beginn wird Danny als beileibe keine perfekte, aber doch recht sympathische Figur vorgestellt, als ein vom Schicksal gebeutelter Mann, dem nie die Chance für ein glückliches Leben vergönnt war. Doch je mehr man über seine Motive und Intrigen erfährt, desto mehr beginnt man ihn abzulehnen, bis er sich am Schluss – ähnlich Gregor Samsas Schwester aus Kafkas „Verwandlung“ – als die schlimmste und verkommenste Figur des gesamten Personals offenbart. Man kann sich nicht einmal verwehren, eine gewisse Sympathie für seine Geschwister zu hegen, obwohl sie ihn am Schluss umbringen, beziehungsweise seine Tötung vertuschen.

Eigentlich wurde diese spannende, psychologisch vielschichtige Geschichte, die freilich aufgrund ihres Plots zu Vergleichen mit einschlägigen Werken der Weltliteratur von Dostojewskij bis García Márquez einlädt, in ihren dreizehn Folgen hervorragend erzählt. So, dass eigentlich keine Fragen offen blieben. Die Geschichte ist an einem narrativ sehr zufriedenstellenden Ende angekommen. Wäre da nicht die allerletzte Szene, die ihr einen neuen Spin gibt und sehr bemüht in eine zweite Staffel verweist – die Netflix auch prompt ankündigte.

Natürlich dürfte eine zweite Staffel unter unternehmerischen Gesichtspunkten Sinn machen. «Bloodline» erhielt von nahezu allen relevanten Outlets erstklassige Besprechungen und dürfte genug Buzz erzeugt haben, um ein breites Publikum zu erreichen.

Doch man kommt nicht vorbei an dem Gedanken, dass hier ein an sich hervorragend platziertes Bookending verspielt, dass eine an sich abgeschlossene Geschichte eher mühevoll weitergesponnen werden wird, die per se – und im besten Sinne des Wortes – zu Ende erzählt ist. Gäbe es nur diese erste Staffel, dürfte «Bloodline» einen sicheren Platz in der Geschichte der amerikanischen Serie haben, als erstklassiges Familiendrama, an dem sich zukünftige Projekte für viele Jahre messen lassen müssen.

Ich hoffe, dass ich falsch liege, dass die hervorragende erste Staffel vielleicht nur das Vorgeplänkel zu einer noch viel grandioseren zweiten ist, dass «Bloodline» ein noch viel größerer Triumph wird als es das jetzt schon ist. Nur dann hätte es sich auch aus narrativer Sicht gelohnt, es nach dem tosenden Applaus dieser dreizehn Folgen nicht gut sein zu lassen.
17.04.2015 15:00 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/77643